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Kultur: Zeichnen bis zur Raserei

Das Berliner Kupferstichkabinett zeigt erstmals, was es an Werken Ernst Ludwig Kirchners besitzt

Man muss die Menschen bewundern für ihre Geduld. Stunde um Stunde stehen sie an, um die Schätze des Museum of Modern Art im Mies van der Rohe-Bau zu bewundern. Es lohnt sich das Warten, zweifellos. Und doch möchte man hingehen und diese Massen oder zumindest einen Teil von ihnen umlenken – nur wenige Meter weiter, in die Sonderausstellungshalle am Kulturforum, wo sie sogleich Kunst gucken könnten. Dort präsentiert sich eine kleine, feine Ausstellung, die doch die ganze geballte Kraft eines Jahrhundertkünstlers spüren lässt und den man in der New Yorker Galerie der Größten schmerzlich vermisst. Ernst Ludwig Kirchner (1880 –1938) ist der Star; die vom Berliner Kupferstichkabinett eingerichtete Ausstellung unter dem doppelsinnigen Titel „Erstes Sehen“ zeigt sein gesamtes Firmament.

Erstaunt reibt man sich die Augen, dass das Kupferstichkabinett hier nun erstmals seinen Kirchner-Besitz vorführt, ist der Künstler als eine der wichtigsten Figuren des Expressionismus doch zugleich Hauptprotagonist des hauseigenen Bestandes. Dahinter verbirgt sich eine verworrene Sammlungsgeschichte, wie sie typisch für die Hauptstadt ist. Dabei stand Kirchner zeitlebens im besten Verhältnis zu den Berliner Museen und hatte großzügig Schenkungen gemacht, wann immer ein Ankauf getätigt wurde. Die Beschlagnahmungen im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ während des Nationalsozialismus führten jedoch zu einer dramatischen Reduzierung, eine Vielzahl weiterer Werke wanderte nach dem Krieg in die Sowjetunion ab.

Mit der Wiedervereinigung aber konnten nicht nur die zwischen Ost und West geteilten Bestände wieder zusammengeführt werden; darüber hinaus kamen die beiderseits der Mauer an Nationalgalerie und Kupferstichkabinett getrennt gesammelten Papierarbeiten in einem federführenden Haus zusammen. Aus vier mache also eins, ergibt einen respektablen Bestand von 32 Aquarellen und Einzelzeichnungen, 205 Skizzen, 110 Druckgrafiken, fünf illustrierten Büchern sowie zahlreichen Briefen und Postkarten.

Notate eines Exzessiven

Seit diesem Zusammenschluss gehört die Kirchner-Kollektion des Kupferstichkabinetts in eine Reihe mit den großen Sammlungen am Frankfurter Städel, am Berliner Brücke-Museum sowie am Kirchner-Museum in Davos. Nachdem im vergangenen Jahr vom Kupferstichkabinett bereits die Grafik Edvard Munchs, von einem Katalog begleitet, präsentiert wurde, folgt nun mit Kirchner der zweite Schlag. Sammlungs-, Wissenschafts- und Publikumsinteresse fügen sich hier, so Museumsdirektor Hein Schulze Altcappenberg mit Bedauern, zu einer Synthese, „wie wir sie anstreben, aber viel zu selten realisieren können“.

So bezieht sich der Ausstellungstitel „Erstes Sehen“ zum einen auf die erstaunliche Erstpräsentation der Kirchner-Bestände, zum anderen auf den Ansatz des Künstlers, dem es vor allem um das unverfälschte Erfassen alles Gesehenen ging. Darin war er ein Besessener und sein Instrument der Bleistift, die Kohle, die schwarze Kreide, der Tusche- oder Aquarellpinsel. „Zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen, die Technik ist zu schön“, hat er einmal von sich gesagt. Die Ausstellung am Kulturforum gibt eine Ahnung davon, was er damit gemeint haben könnte. Komprimiert dokumentieren sich diese exzessiven Notate in jenen über 200 Blatt umfassenden Skizzenalbum, das 1986 erworben wurde und nun zum ersten Mal öffentlich zu sehen ist. Da die Zeichnungen zwar aus verschiedenen Phasen stammen, aber Motive der „Brücke“-Zeit umkreisen, also Szenen aus dem Zirkus und Varieté, Momentaufnahmen im Atelier oder an den Moritzburger Seen, hat dieses Kompendium der Forschung lange Zeit Rätsel aufgegeben. Hatte diese Blätter jemand posthum kompiliert? Nach neuesten Erkentnissen stammt die Zusammenstellung von Kirchner selbst - als Musterbuch zur Illustration für das 1923 von Gustav Schiefler erarbeitete Werkverzeichnis seiner Druckgrafik.

Die wenige Zentimeter großen Blätter sind wie der Nukleus seines Werks. Was im Skizzenblock noch in knappen Strichen hingeworfen ist, die Beinbewegung tanzender Revuegirls, der kesse Schwung ihrer Röcke oder der apart geneigte Kopf eines Modells, verdichtet sich in den späteren Gemälden und Drucken. Gerade diese Spannbreite beeindruckt: einerseits der Wunsch, alles spontan zu erfassen, andererseits der Wille, diesen ersten Eindruck doch zu vertiefen.

So flüchtig die Zeichnungen erscheinen, Kirchner hat sich sein Werk um einen hohen Preis abgerungen. Den Belastungen eines Einsatzes im Ersten Weltkrieg hielt der Übersensible nicht stand und musste sich seitdem immer wieder in Sanatorien einweisen lassen. Das 1917/18 radierte Selbstporträt „Kopf eines Kranken“, das auch seine damals bis zur Lähmung verkrampften Hände zeigt, lässt kaum noch an die heiteren Moritzburger und Berliner Tage denken. Trotzdem war Kirchner ein Spätwerk mit durchaus schönen Seiten vergönnt. Zu den letzten Blättern der Ausstellung gehört ein fröhliches Aquarell über rosafarbener Ölkreide, das ein Bergidyll zeigt, sein Schweizer Exil. Doch auch in der Abgeschiedenheit vermochte sich der Künstler den Bedrängnissen seiner Zeit nicht zu entziehen – den Enttäuschungen über abgesagte Ausstellungen, zurückgezogene Aufträge, den Diffamierungen der Nazis. 1938 setzte er seinem Leben ein Ende.

Sonderausstellungshalle, Kulturforum, bis 29. August; Die.–Fr. 10–18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, Sa, So. 11–18 Uhr. Katalog (Prestel Verlag, München) 35 €.

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