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ZEIT Lupe (4): Funklöcher und kaputte Uhren

Zwischen den Jahren wendet sich die Zeit. Ein guter Moment, sich über sie Gedanken zu machen.

Zwischen den Jahren wendet sich die Zeit. Ein guter Moment, sich über sie Gedanken zu machen. Heute: die Unzeit.

Die Zeit, wir hätten sie gern! Und würden noch lieber aus ihr fallen, sie im Glücksmoment anhalten oder sie je nach Einsicht oder Aussicht mal sparen und mal vergeuden. Warum ist das so schwer?

Als ein beginnender Schauspieler einst auf eine Theaterprobe des großen Regisseurs Fritz Kortner leicht verspätet hereingehastet kam, sagte Kortner: „Nicht so schnell, junger Mann! Wir haben keine Zeit.“ Deshalb dauerten Kortners Proben für Ungeduldige eine Ewigkeit.

Tatsächlich haben wir keine Zeit, weil niemand, außer er wäre Gott, eigentlich weiß, was das ist: die Zeit. Völker wie die Hopi-Indianer kennen nicht einmal ein Zeit-Wort. Wir erkennen immerhin Tag und Nacht und den Zyklus der Jahreszeiten, der trotzdem nicht das neue Jahr und damit die Jahreswechsel markiert. Wir gemeinen Gregorianer brauchen, wie schon die Hethiter oder die Maya, Sonne und Mond, um uns die irdischen Phasen einzuteilen. Dafür haben wir dann die Zeitmesser und Zeitmaße erfunden. Und Einstein hat entdeckt, dass die ganze Sache auch sehr relativ sein kann.

Nur, was das absolut relativ ist, was wir dauernd messen und was unsere Tage, Stunden, Sekunden taktet, das wissen wir immer noch nicht. Nicht so richtig.

„Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. / In den Gesichtern rieselt sie, / im Spiegel, da rieselt sie, / In meinen Schläfen fließt sie. / Und zwischen mir und dir – / da fließt sie wieder“, singt die Marschallin über die Zeit in Hofmannsthals „Rosenkavalier“. Die Zeit bleibt flüchtig, ein schönes schreckliches Gespinst, magisch gedehnt und verrückt wie für Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“. Wir haben die unbegreifliche Zeit im Paradies oder in der Kindheit verloren, suchen sie mit Marcel Proust wiederzufinden, machen das Warten im zeitlosen Raum zur Beckett’schen Existenz-Metapher oder glauben, allen Zeitzwängen zu entkommen, wenn wir die Uhren zerschlagen, wie es sich Büchners Leonce erträumt. Auf dem gleichen Prinzip gründen sich wohl auch die einsamen Urlaubsinsel-Illusionen: Südsee, Funkloch unter Palmen und keiner geht einem auf den abgestellten Wecker.

Hier gesellt sich zur Uhrzeit nun die Unzeit. „Unzeitgemäße Betrachtungen“ über den Nutzen und „Nachtheil“ der Historie für das Leben hat Friedrich Nietzsche vor anderthalb Jahrhunderten geschrieben. Dennoch hat die Unzeit als aparte Erscheinung in unserem Sprachgebrauch kaum Karriere gemacht. Irgendwer oder -was kommt zur Unzeit, heißt es. Die Unzeit aber wäre ja nicht nur die falsche Zeit. Sie wäre auch die andere, sozusagen zeitfreie Zeit. Der Traum von glücklicher Entrückung, Entzückung. An den Untagen zwischen den Unjahren einmal zeitlos schön.

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