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Zeit SCHRIFTEN: Mit den Stacheln eines Igels

Lässt sich eine einheitliche Moralphilosophie entwickeln, deren Werte sich nicht früher oder später in die Quere kommen? Amerikas berühmtester Rechtsphilosoph Ronald Dworkin plädiert für ein entschiedenes Ja.

Von Gregor Dotzauer

Die weite Welt der Moralphilosophie wird einem Tolstoi gewidmeten Essay von Sir Isaiah Berlin zufolge entweder von Füchsen oder von Igeln bewohnt: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding.“ Berlin selbst war zweifellos ein liberal-humanistischer Fuchs. Nichts hielt er für vergeblicher, als gegen den Pluralismus der Werte den Monismus eines systematischen Denkens zu verteidigen, das der Idee einer einzigen, unteilbaren Wahrheit anhängt. Wer etwa für den Wert der Freiheit eintritt, so glaubte er, wird früher oder später mit dem Wert der Gleichheit Probleme bekommen – und umgekehrt. Der mögliche Konflikt schreckte ihn zwar nicht ab, an diesen Werten festzuhalten, aber ihm war bewusst, dass der konkrete Fall immer eine Abwägung verlangt.

Heute rasen mit wechselnder Fortune fast nur noch Füchse durch das Land. Hier eine Prise Marktradikalismus, dort ein Rest christliches Menschenbild, dekoriert mit einem Quäntchen Utilitarismus, der anhand von Kosten-Nutzen-Rechnungen das Glück der größten Zahl zu maximieren versucht, das Ganze in Schach gehalten von sozialstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit. Wann hat sich zuletzt ein Igel blicken lassen? Einer, der sein Anliegen nicht mit Gottes Segen oder sonstigen metaphysischen Tricks vorbringt?

In Gestalt von Ronald Dworkin, Amerikas berühmtestem Rechtsphilosophen, meldet sich mit „Justice for Hedgehogs“ (Harvard University Press) nun jemand zu Wort, der nicht nur für die Einheit aller Werte eintritt, sondern auch Stacheln besitzt, das, was ihn philosophisch bewegt, ins Praktische zu wenden. Im Blog der „New York Review of Books“ (www.nyrev.com), deren Ausgabe vom 28. April die „Gerechtigkeit für Igel“ auf drei großen Seiten als „Geburt eines Klassikers“ rühmt, hat er sich gerade erst mit fünf konservativen Richtern des Supreme Court angelegt, die sich dafür verwenden, Spenden an religiös ausgerichtete Schulen komplett steuerabzugsfähig zu machen – für Dworkin eine indirekte Zuwendung des Staates und nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer allein den Republikanern gewogenen Politik.

Das Plädoyer für die Einheit von Recht und Moral war schon immer Dworkins Markenzeichen. Der Ehrgeiz, mit dem er nun aber, begleitet von zahlreichen Beispielen, das Richtige und das Gute zusammendenkt, ist schwindelerregend. Warum, fragt Dworkin, soll die Verantwortung, die das Individuum für seine Handlungen übernimmt, anderen Regeln gehorchen als die Verantwortung von Regierungen? In einem auch für Nichtphilosophen verständlichen Stil fordert er die Konsistenz unserer Überzeugungen. Er bezweifelt nicht, dass wir in unseren Urteilen radikal auseinanderliegen können. Wenn wir unsere Begriffe aber ausreichend schärfen und uns im Streit um Werte selbst in der Ablehnung aufeinander beziehen, entsteht etwas Verbindendes, das zugleich die Einheit unserer Moralität ausmacht.

Die Trommelwirbel zum Paukenschlag dieses summum opus waren schon 2009 bei einem Symposion zu hören, das die „Boston University Law Review“ (Vol.90/No.2.) dokumentiert. (www.bu.edu/law/central/jd/organizations/journals/bulr/index.html) Zuletzt hatte Dworkin im Februar in der „New York Review“ dem Ereignis mit dem Essay „What Is a Good Life?“ präludiert. Fragwürdiger als seine Zirkelschlüsse, die er offensiv verteidigt, ist nur, dass Dworkin meint, dass Menschen sowohl willens wie in der Lage sind, ihre Werte zu begründen. Doch was wäre die Alternative?

Die beste Schule des moralphilosophischen Argumentierens sind die Videovorlesungen des kommunitaristisch geprägten Philosophen Michael Sandel. In 30 Jahren haben über 15000 begeisterte Studenten seinen Kurs „Justice“ (www.justiceharvard.org) besucht. Theoretisch substanzieller, dramaturgisch raffinierter und unter Beteiligung des Publikums unterhaltsamer geht es nicht. Dass „Justice“ nun auch als filmisch perfekt inszenierter Gratis-Download bei iTunes zur Verfügung steht, ist ein Glücksfall. In 24 Lektionen und 12 Stunden tritt man eine Reise von Jeremy Benthams Utilitarismus über Kants Pflichtenethik bis zu Aristoteles’ Tugendlehre an – entlang von Fragen wie Leihmutterschaft, gleichgeschlechtlicher Ehe und Minderheitenquoten.

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