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Kultur: Zeitweise sehe ich gern vergiftete Bäume

Lyrik boomt: Wie beim vierten Berliner Poesiefestival die Welt umgedreht wurde

Obwohl man sich in den letzten Jahren daran gewöhnt haben sollte, versetzt es in Erstaunen: Ausgerechnet das Gedicht, die eigensinnigste, unzeitgemäßeste literarische Form feiert ein grandioses Comeback. Die Slam-Szene veranstaltet regelmäßig Partys, Juroren sehen sich bei Literaturwettbewerben mit einer Lyrikschwemme konfrontiert. Das von der „literaturwerkstatt“ ausgerichtete „Berliner Poesiefestival“ hat sicher seinen Anteil am Aufschwung der Gattung. Bis kurz vor Ende der diesjährigen vierten Auflage zählte man 26000 Besucher. Trotz Regendrohung und zunehmender Kälte waren die Plastikstühle am Potsdamer Platz beim Abschluss „Weltklang - Nacht der Poesie“ gut besetzt.

Gewiss profitiert das Gedicht davon, dass seine Konturen ausgefranst sind. Neben streng gebundener Rede in altehrwürdigen Versen präsentierte das Festival zehn Tage lang vor allem visuelle, digitale, Laut- und Tanzpoesie. Der Trend vom Schriftlichen zum Mündlichen verschiebt die Gewichte vom Sinn zur Sinnlichkeit. Den „Klang von Sprachen wie in einem Konzert wahrzunehmen“ war erklärtes Ziel von „Weltklang“. Denn vom Verstehen des Indonesischen (Dorothea Rosa Herliany), Gälischen (Nuala Ní Dhomhnaill), Albanischen (Ismaïl Kadaré) oder Schwedischen (Lars Gustafsson) kann zunächst keine Rede sein. Beim Nachlesen der in einem Buch versammelten Übersetzungen erweisen sich diese Gedichte als vergleichsweise traditionelle Sprachkunst.

Dennoch hatte Adolf Muschg – Präsident der Akademie der Künste, Moderator des Abends – eine „Revolution“ angekündigt. Revolution bedeutet „Umdrehung“: Im Gedicht drehe sich die Welt um, der Dichter mache sie reversibel und könne versuchen, zu den Göttern zurückzugelangen. Glaubt man Stephane Mallarmé, dann will alle Dichtung zu den Göttern. In einem Vortrag von 1894 hatte er verkündet: „In Wirklichkeit gibt es keine Prosa: Es gibt das Alphabet und dann Verse“. Verse aber sind vom Metrum gebundene Sprache. In der altindischen Religion hüllen sich die anfangs sterblichen Götter in Metren, „chandas“ – Gewänder also, die sie vor dem Feuer schützen. Beschirmt von den Metren entgehen sie dem Tod. Seither versuchen die Menschen, über die strenge Form ihrer Dichtung die Unsterblichkeit der Götter zu erlangen. Doch das gelingt nur selten.

Bei dem Chilenen Gonzalo Rojas heißt es: „Hölderlin sprach als Letzter mit den Göttern, ich kann’s nicht." Dabei ist die lateinamerikanische Lyrik noch am ehesten mit Naturerscheinungen verwoben. Bei Wolfgang Hilbig ist das Göttliche um einiges weiter entfernt: „Kein Gott in dieser Straße, es waltete links und rechts ihrer ergrauten Häuserzeilen die Industrie.“ Dafür brechen in seiner „gemäßigten Zone“ bei übergroßer Hitze gelegentlich Revolutionen aus. Hier freilich darf die soziale Konnotation des Wortes mitgedacht werden.

Eine gelungene Mixtur verschiedenster lyrischer Tonlagen stieß beim „Weltklang“ aufeinander. Abbas Beydoun aus dem Libanon brach beim Vortrag seiner poèmes en prose in Gesang aus; die Dame der Wiener Gruppe, Elfriede Gerstl, erfreute mit österreichischer Bösartigkeit („von zeit zu zeit seh ich sie gern/die vergifteten bäume“). Es segelt viel Disparates unter der Flagge des Gedichts. Thomas Wohlfahrt, Leiter der „literaturwerkstatt", möchte es als „selbständige Kunstform neben der Literatur" etablieren. Was er da gemeint haben könnte, wurde beim Auftritt des Großmeisters der Poésie Sonore, Henri Chopin, deutlich. Chopin verwandelt Mund und Atemorgane in eine „Klangfabrik“, zeichnet seine Körpergeräusche auf, moduliert ihre Höhen, Tiefen, Geschwindigkeiten, dirigiert sie auf der Bühne. Mit solchen „Gedichten“ dürfte selbst ein sehr weiter Literaturbegriff Probleme bekommen.

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