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Zum 100. von Simenon: Der Mythos von Sisyphos

Maigret oder nicht Maigret: Heute wäre der Jahrhundert-Schriftsteller Georges Simenon 100 Jahre alt geworden

„Er macht es sich in einer Untersuchung wie in Pantoffeln bequem.“ Ein Satz, ein Leben. Die Methode und der Mythos Maigret: Etwas unzerstörbar Behäbiges, beinahe mutwillig Idyllisches haftet der Erscheinung des bauernschlauen, bis ans Ende aller Tage und Nächte Pfeife schmauchenden Pariser Kommissars an. Folgt man dem Mann bei der Verbrecherjagd, die er mit dem Charme eines Walfischs verrichtet, während Madame Maigret zu Hause geduldig mit dem Essen wartet, vergisst man leicht, dass es sich um den erfolgreichsten und berühmtesten Bullen seit Erfindung des Buchdrucks handelt – und den Paten all der venezianischen oder schwedischen Originale, die auf den aktuellen Bestsellerlisten ermitteln.

Maigret, der Triumph des ewigen Spießers? Oder des Sportlers? Man bringt das unglaubliche Zahlenwerk lieber schnell hinter sich, ohne das kein Artikel über den Maigret-Erfinder Georges Simenon auskommen kann. 200 Romane hat der Belgier, der heute vor 100 Jahren in Lüttich geboren wurde, unter eigenem Namen veröffentlicht; nicht mitgezählt die Berge von Groschenheften, die der blutjunge Schriftsteller in den zwanziger Jahren unter diversen Pseudonymen auf den Markt warf. In 55 Sprachen übersetzt, wird die Simenon-Gesamtauflage auf wahnsinnige 500 Millionen Exemplare geschätzt. An die 60 Kinofilme – Jean Renoir, Marcel Carné, Jean-Pierre Melville, Claude Chabrol sind seine Regisseure – und 300 Fernsehverfilmungen erlebten die Simenon-Titel bisher, und auch die rituell kolportierte Rekordziffer von 10000 Frauen, mit denen der homme à femmes und fleißige Bordellgänger Simenon im Lauf seines langen Lebens – er war drei Mal verheiratet und starb am 4. September 1989 in Lausanne – geschlafen haben will, gehört in dieses persönliche Guinness-Verzeichnis.

Wie eine Märchenfigur mutet dagegen die genüsslich an seiner Pfeife nuckelnde Maigret-Type an: ein blanker Anachronismus im barbarischen 20. Jahrhundert der Weltkriege. Maigret, der kleinbürgerliche, asexuelle Gottvater vom Polizeihauptquartier am Quai des Orfèvres war für seinen rastlosen Schöpfer, der ständig den Wohnort wechselte und am liebsten auf Schiffen zu Hause war, der Ruhepol. Und Fluch und Segen. Simenon war im Sohnesalter von 26 Jahren, als er den etwa 45-jährigen Kommissar erfand. Später wurde der Schriftsteller äußerlich seinem Über-Geschöpf immer ähnlicher, mit Hut und Pfeife und allerlei Schrullen. Maigret, der radikale Gegenentwurf: Simenon führte als Jungstar in Paris ein ausschweifendes Leben, das jeden Bohemien vor Neid erblassen ließ. Der aus dem wallonischen Mief nach Montmartre Davongelaufene perfektionierte die surrealistische Idee der écriture automatique. Sein Verleger wollte ihn zu PR-Zwecken in Paris in einen Glaskäfig sperren, wo Simenon unter den Augen der Öffentlichkeit einen Roman schreiben sollte. Das Happening fand zwar nie statt, doch die geplante Aktion wird in etlichen Publikationen über Simenon als fait accompli dargestellt. So stark war die Simenonsche Suggestion.

Legendär das rauschhafte, berauschte Simenonsche Schreibtempo. Der gelernte Journalist, der mit siebzehn schon so reif und alt aussah wie ein Mittdreißiger, fetzte Romane herunter, als wären es kurze vermischte Meldungen. Wie ein Marathonläufer im Dauersprint. Als Hitchcock einmal Simenon anrief, sagte Madame Simenon, der Meister habe gerade einen Romane begonnen. Gut, erwiderte Hitchcock, dann bleibe ich eben so lange dran.

Kaum vorstellbar, dass ein derart mit Erfolgen überschütteter und mit schier übermenschlichen Kräften ausgestatteter Schriftsteller unter Depressionen litt – und am horror vacui! Gegen Simenons seltsame Zerrüttung hat auch größtes Lob von Giganten wie Federico Fellini, Walter Benjamin („Ich lese jeden neuen Roman von Simenon“), Henry Miller und André Gide wenig ausgerichtet. Gide, der Nobelpreisträger, schrieb dem von Selbstzweifeln gequälten Simenon aufopferungsvolle Briefe: „Georges Simenon ist heute unser größer Schriftsteller, und zu dieser Überzeugung werden außer mir schon noch andere kommen.“

Kein Chandler, keine Highsmith, nicht einmal Agatha Christie, deren Kriminalromane gleichfalls astronomische Auflagen erreichten, wurden je so populär wie Simenon. Man kann ihn einen Popstar nennen: schier unerschöpfliches Thema für Home Stories in Illustrierten und wissenschaftliche Abhandlungen. Dieser Spagat drohte ihn zu zerreißen. Simenon kämpfte, gezeichnet von seinem singulären Erfolg, um die Anerkennung als Literat. Mitte der dreißiger Jahre begann er – mit ebensolchem Tempo – „richtige“ Romane zu schreiben, die so genannten Non-Maigrets.

Afrika, Ozeanien, später auch die USA, wo Simenon einige Jahre lebte, wurden die neuen Schauplätze. Es springt ins Auge, dass Simenon in Romanen wie „Tropenkoller“, „Der Bananentourist“ oder „45 Grad im Schatten“ den Existenzialismus anstieß. Simenons Helden waren jetzt Gestrandete, Verirrte, Aussteiger: arme Schweine in dreckigen Kolonien, denen jede Joseph Conradsche Romantik versagt war. Auch bei den Non-Maigrets, die in der französischen Provinz (oft an der Küste) spielen, etwa „Wellenschlag“, „Sonntag“, „Betty“ oder „Das blaue Zimmer“, macht sich die Abwesenheit des Beichtvaters vom Quai des Orfèvres produktiv bemerkbar. Um die Protagonisten entwickelt sich eine anarchistische Hölle von Liebe, Ehebruch, Alkoholismus, Gier und Bigotterie. Ohne Papa Maigret war Simenon auf sich allein gestellt – in seinem Kampf um den nackten Menschen und den definitiven Roman.

Die Welt der Simenon-Bücher ist eng, intim, es riecht nach alter Kneipenluft, Schuldschweiß, Brackwasser und ungemachten Betten nach dem Akt – kein Panoramablick, nichts Glamouröses, auch nicht, wenn die Hauptperson (wie in den „Grünen Fensterläden“) ein reicher und berühmter Schauspieler ist, der aus dem Leben kippt. Kammerspiele: als habe Simenon sich abgewendet von den Katastrophen und Umwälzungen seiner Zeit. Vielleicht erlebt die hervorragend edierte Simenon-Ausgabe bei Diogenes deswegen jetzt eine Renaissance. Man sehnt sich nach dem Zivilen, sei es noch so noir. Nach dem überschaubaren Desaster. Nach dem alten Europa.

Simenon, der Paria der Literaturgeschichte par excellence. Er vollendete den französischen Realismus des 19. Jahrhunderts, überspielte die Surrealisten und nahm den „Fremden“ von Camus vorweg. So etwas tut einer nicht ungestraft. Unwillig bescheinigten ihm die Kritiker von Band zu Band „literarischen“ Fortschritt (oder eben nicht), als sei Sisyphos Simenon zum ewigen Treppensteigen in den Dichter-Olymp verurteilt. Er quälte sich mit gnadenlosen Selbsteinschätzungen, er betrachtete sich mit fast pathologischem Misstrauen als einen Kriminalautor, als literarischen Parvenu, dem paradoxerweise sein handwerkliches Genie im Wege stand. Jetzt erst, posthum, widmet die französische Hochadels-Edition Pléiade dem Werk Simenons ihren 499. und 500. Band.

Das Drama des überbegabten, manischen Schreibers zwischen den Kategorien wiederholt sich bei Stephen King. Der hyperproduktive Amerikaner könnte Simenon eines Tages mit seinen Auflagenrekorden überholen. Denn: Heute kommt der Horror aus den USA. Und King ist kein Pfeifenkopf, sondern ein dope head. Marihuana statt Maigret!

Rüdiger Schaper

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