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Der Soziologe Mario Rainer Lepsius, 2006.

© Alexander Lucas / Wikipedia

Zum Tod des Soziologen Rainer Lepsius: Moral und Mission

Die Soziologie war seine Leidenschaft, als Publizist, als Lehrender, als Rhetoriker: Erinnerung an den Soziologen- und Max-Weber-Herausgeber Rainer Lepsius, der am 24. September mit 86 Jahren gestorben ist.

Von Mario Rainer Lepsius gibt es famose Kabinettstücke soziologischer Analyse, zum Beispiel Aufsätze über Machtverhältnisse im Deutschen Reich und die politische Ordnung der Bundesrepublik, über die Ungleichheit zwischen Menschen und die ständische Vergesellschaftung des Bürgertums, über soziale Stagnation in Italien und den Beruf der Intellektuellen. In den beiden Sammelbänden „Interessen, Ideen und Institutionen“ (1990) und „Demokratie in Deutschland“ (1993) kann man solche Stücke in beträchtlicher Zahl finden.

Die mächtige Wirkung, die Lepsius auf die deutsche Soziologie ausgeübt hat, erschließt sich aber weniger über seine Texte als über die Unzahl von Reden und Diskussionsbeiträgen, mit denen er auf großen Kongressen wie auf kleinen Sitzungen imponierte. Nicht zuletzt vor Studenten in seinen Universitäten – in München, dann Mannheim und Heidelberg.

Es ging Rainer Lepsius um die "kognitive Befreiung vom Nationalsozialismus"

Da lief er immer wieder zu intellektueller Hochform auf, in Vorträgen voller Meinungsstärke und Argumente, Witz und Ironie, manchmal auch Pathos. Man muss sich beim Lesen von Rainer Lepsius’ Reden und Interviews nur die Stimme vergegenwärtigen: Wie er alle Ausdrucksregister zu ziehen vermochte, vom gedämpften Sostenuto über das Lamento bis hin zur Attacke con brio, um die Faszination seines charismatischen Temperamentes zu verstehen.

Der nachhaltige Eindruck in seinem Fach resultierte natürlich nicht bloß aus seinem Temperament. Er ergab sich aus der Leidenschaft, mit der Lepsius die Soziologie als Mission verstand. Diese Leidenschaft ist nicht nachvollziehbar, wenn man die „sozialmoralische Motivation“ verkennt, die sich bei dem 1928 in Rio de Janeiro geborenen Sprössling einer alten Gelehrtenfamilie aus der Erfahrung und gegen den Irrsinn des Nationalsozialismus begründete. Als er sich Ende der 40er Jahre an die Soziologie heranmachte, ging es ihm um die „kognitive Befreiung vom Nationalsozialismus“, wie er sagte. Darum, den ruinierten Rekurs auf „Nation, Volk und ähnliche Begriffe abzubauen, durch individualistische Handlungsanalyse und konkrete Kontextbestimmung“. Längere Auslandsaufenthalte brachten Lepsius außerdem an die London School of Economics and Political Science und die Columbia University in New York.

Bis zuletzt arbeitete Lepsius an der monumentalen Max-Weber-Gesamtausgabe

In den „autobiografischen Skizzen“, die dem von Adalbert Hepp und Martina Löw herausgegebenen Band „M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession“ beigegeben sind, stellt Lepsius dar, wie sich die Berufung zur Soziologie über diverse Karrierestationen ausbildete, dann aber auch in wichtigen Ämtern praktisch zu bewähren hatte. Besonders nachhaltig in seiner Funktion als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie von 1971 bis 1974, als das Fach infolge der 68er-Bewegung zu erodieren drohte. Mehr als anderen ist es Rainer Lepsius, seiner wissenschaftlichen Dignität und persönlichen Autorität zu verdanken, dass sich die Soziologie in dieser Phase nicht „zu einer essayistischen, für wechselnde Moden und Ideologien anfälligen bloßen Zeit- und Kulturkritik“ entwickelte.

Nicht erkennbar irritiert von zeitgeschichtlichen Geschehnissen arbeitete Lepsius am Ausbau eines von Max Weber geprägten soziologischen „Institutionalismus“. In unabsehbar fortlaufenden gesellschaftlichen Prozessen gehe es „um die Erfindung und Durchsetzung von Standards, Regeln und Verfahren“ zur Gestaltung sozialer Zusammenhänge. Diesen Ansatz hat er ausgearbeitet und für fundierte Analysen genutzt, zuletzt in der Absicht, die Konstruktionsprinzipien der Europäischen Union samt ihren institutionellen Defiziten zu beschreiben.

In den vergangenen Jahren war Rainer Lepsius als Herausgeber der monumentalen Max-Weber-Ausgabe außerdem damit beschäftigt, Texte des Meisters zu edieren. Eine mühselige Kärrnerarbeit, der er sich unterzog, weil er den Rückgriff auf Webers Texte für den Fortschritt der heutigen Soziologie und die Fundierung unseres Zeitverständnisses generell wichtig fand. Über dieser Arbeit ist Rainer Lepsius am 24. September in seinem Haus in Weinheim gestorben, er wurde 86 Jahre alt.

Friedhelm Neidhardt ist ehemaliger Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Friedhelm Neidhardt

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