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Kultur: Zwei linke Hände

Was bleibt: Kulturell ist Rot-Grün eine Erfolgsgeschichte – politisch haben es die Achtundsechziger nicht geschafft

Im Laufe meines Lebens habe ich zahlreiche Erfahrungen mit selbstverwalteten, autonomen oder alternativen Handwerksbetrieben gesammelt. Sie waren billig, und sie gehörten zu meinem Milieu. Es endete aber fast immer im Desaster. Die Typen kamen zu spät oder gar nicht, die abgelieferte Arbeit war mies, und man durfte sich nicht mal beschweren, denn dann wurden sie sauer und warfen sofort alles hin. Einmal habe ich in Freiburg mein Auto, einen bildschönen Oldtimer, mit dem mich stärkere Gefühle verbanden als mit meiner damaligen Lebensgefährtin, wegen irgendeiner Kleinigkeit in eine Werkstatt in einem besetzten Haus gebracht. Als ich den Wagen abholen wollte, war das Haus von der Polizei geräumt, der Oldtimer war in die Schrottpresse gewandert. Die Typen aus der Werkstatt hatten der Polizei gesagt, dass sie den Besitzer nicht kennen, und dass ihnen egal sei, was mit der alten Karre passiert. Ihre eigenen Autos hatten sie rechtzeitig in Sicherheit gebracht.

Ich hatte plötzlich Sehnsucht nach einem dieser alten, grauhaarigen, lederhäutigen Handwerksmeister, einem dieser, wie die Alternativhandwerker gesagt hätten, hyperkorrekten, analfixiert-kryptofaschistischen Korinthenkacker, die ihre Arbeit noch wirklich ernst nehmen, Schondecken aufs Autopolster legen und vor Beginn der Reparatur von allen Details millimetergenaue Bleistiftskizzen anlegen, statt Pi mal Daumen einfach loszulegen. Und ich glaube, dass die meisten Deutschen, politisch gesehen, im Augenblick genau diese Sehnsucht haben. Man will die Schluris zum Teufel jagen. Die korrekten, peniblen Handwerker sollen ’ran und das Vaterland endlich mal so reparieren, dass es wirklich wieder funktioniert. Es geht gar nicht so sehr um Politik. Es geht darum, saubere Arbeit abzuliefern.

Aber gibt es diese Sorte Handwerker überhaupt noch?

Es heißt oft: Mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer werden die Achtundsechziger abgewählt. Aber Achtundsechzig ist deswegen natürlich nicht vorbei, es bleibt, wie der Jahresring in einem Baum. So etwas hängt nicht an Personen. Die Folgen der Adenauerpolitik blieben, auch als Adenauer längst tot war, hinter Willy Brandt und hinter die Beatles führte kein Weg zurück, und genauso wenig wird es unter der CDU ein Roll-Back geben, zurück zu rigider Sexualmoral, zurück hinter den Feminismus, zurück zu der Haltung, dass die Umwelt völlig egal ist. Das alles gehört längst zum gesellschaftlichen Konsens, keine Kanzlerin hätte die Macht, daran etwas zu ändern.

In den politischen Kommentaren werden immer die Parteien und die Personen überschätzt, die Gesellschaft und ihre Strömungen werden unterschätzt. Man könnte eine Geschichte der Bundesrepublik schreiben, ohne einen einzigen Kanzlernamen zu erwähnen, Geschichte als ein Kontinuum, mit an- und abschwellenden Kraftfeldern. Einen echten Bruch bedeutete nur ein einziger Kanzlerwechsel, der zu Brandt im Jahr 1969. Alle anderen Wechsel waren, wenn wir sie heute aus der Distanz betrachten, nicht sehr dramatisch. Und sogar Brandt war nicht Ursache, sondern eher Folge einer Veränderung. In einer „geistig-moralischen Wende“, von der Helmut Kohl in seiner Anfangszeit so gerne gesprochen hat, können Regierungen stürzen, eine solche Wende kann aber nicht von Regierungen ausgelöst werden.

Ich gehöre zu dieser Generation, besser gesagt: zu dieser sozialen Gruppe, die jetzt wahrscheinlich abgewählt wird. Wir sind wie ein Stamm, wir erkennen einander an Verhaltensweisen oder Äußerlichkeiten, ähnlich wie Ostdeutsche oder Großbürgerkinder einander erkennen. Man hat an WG-Tischen gesessen, Beziehungsdebatten geführt, in K-Gruppen gewirkt ... Wir sind kulturell geprägt, auch wenn viele von uns inzwischen politisch ganz anders denken, oder sogar, wie ich, keine Angst mehr vor der CDU haben.

Im Grunde, behaupte ich, war Achtundsechzig eher eine kulturelle als eine politische Bewegung. Es ging, wie man heute sagen würde, um einen neuen Lifestyle, der sich auch unwiderruflich durchgesetzt hat, um Veränderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern, der Umgangsformen, um Sexualität, um eine Liberalisierung des alltäglichen Lebens – das alles ist auch politisch, das stimmt, aber eben nicht politisch im engeren, konkreten Sinn, nicht politisch im Sinne einer Regierungspolitik.

Man muss sich noch einmal die Programme und die Flugblätter der damaligen Zeit in Erinnerung rufen. Fast alle Westdeutschen, die unter Rot-Grün etwas wurden, kamen ja aus K-Gruppen oder von den Spontis oder den Jungsozialisten. In ihren politischen Programmen standen die Abschaffung des Kapitalismus, die Verwandlung der Bundesrepublik in eine zweite DDR, die Vorbilder hießen zum Teil Mao, zum Teil Stalin, zum Teil Albanien, oder man feierte anarchomäßig das Chaos. Die Programme waren zum Teil barbarisch, zum Teil irrsinnig. Sie waren, zum Glück, undurchführbar, statt dessen kaperten sich einige die Ökologie, wie eine Art Surfbrett, auf dem sie dann an die Macht surften. Dort angekommen, hatten sie, wie wir inzwischen wissen, außer ihrem Machtwillen und ihrem Sexappeal nicht allzu viel zu bieten, denn ein Programm hatten sie ja nicht und mit ihren Regierungskünsten waren sie ungefähr so erfolgreich wie die alternativen Automechaniker, die ich damals hatte.

Kulturell aber war Achtundsechzig ein Erfolg, denn es hat unwiderruflich den Alltag verändert und manches Segensreiche bewirkt. Allerdings war Achtundsechzig weniger antikapitalistisch, als seine Protagonisten behaupteten. Es lässt sich auch als Amerikanisierung oder als Modernisierung beschreiben, als Zerstörer von Traditionen und Bindungen, wie es, nach der Analyse von Karl Marx, der Kapitalismus seit jeher gewesen ist. Weder Achtundsechzig noch Rot-Grün waren Subjekt der Geschichte, sondern Objekt, im Sinne Hegels: Verwaltungsangestellte des Weltgeistes.

Ob Bundeswehreinsätze in Übersee oder Schwulenehe, beides war fällig, das eine politisch, das andere gesellschaftlich, und beides hätte die CDU schwerer durchsetzen können, das eine nur gegen Massenproteste, das andere nur gegen die eigene Parteibasis, aber beides wird bleiben.

Zu den paradoxen, widersprüchlichen Ergebnissen der rot-grünen Ära gehört die Desillusionierung. Der Glaube an die Politik und ihre Möglichkeiten hat stark abgenommen. Wer nimmt noch einen Politikersatz ernst? Wer kann sich noch einer ehrenwerten politischen Bewegung anschließen, ohne sofort an das ruhmlose Versickern von Rot-Grün zu denken? Wenn die Anhänger von Gerhard Schröder und Joschka Fischer die Erfolge ihrer Regierung zusammenzählen, wofür meistens die Finger einer Hand genügen, kommt als einer der ersten Punkte immer das Nein zum Irakkrieg.

Und Merkel hätte mitgemacht! Andererseits wissen wir inzwischen nur zu genau, dass die Aussagen, die ein Politiker in der Opposition macht, mit seinen späteren Taten als Regierender nicht unbedingt etwas zu tun haben müssen. Hätte sie mitgemacht? Die Frage ist hypothetisch, aus den Worten einer Politikerin kann man die Antwort jedenfalls nicht ableiten, leider.

Deswegen wollen 70 Prozent der Wähler eine andere Regierung – so einig war man sich in Deutschland das letzte Mal bei der Ablehnung des Irakkrieges –, aber nur wenige trauen der Opposition zu, dass sie es wirklich besser macht. Warum? Die Leute haben Sehnsucht nach dem grauhaarigen, grundsoliden Mechaniker, der Deutschland repariert und all die unachtundsechzigerhaften Tugenden verkörpert, die im Grunde gar nicht so schlecht waren: Zuverlässigkeit, Stetigkeit, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Prinzipientreue, Bescheidenheit ...

Gleichzeitig spüren die meisten, dass Achtundsechzig kulturell gesiegt hat, egal, was aus der rot-grünen Regierung wird. Vielleicht gibt es den zuverlässigen, genauen, altmodischen Mechaniker gar nicht mehr, vielleicht sind wir dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in unseren Wohnküchen zu sitzen, hinter uns ein Berg von ungespültem Geschirr, und bis ans Ende aller Tage kommt keiner und macht den Abwasch.

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