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Kultur: Zwischen den Jahren

Oleg Jurjew über den Zeitspalt, der in diesen Tagen auseinander rückt Nur wenige mögen ihre Geburtstage – nicht allein wegen der Angst vor dem Alter. Das zwiespältige Gefühl unliebsamer Freude verrät: Es geht um die Haltung des Menschen zu seinem Tod.

Oleg Jurjew über den Zeitspalt, der in diesen Tagen auseinander rückt

Nur wenige mögen ihre Geburtstage – nicht allein wegen der Angst vor dem Alter. Das zwiespältige Gefühl unliebsamer Freude verrät: Es geht um die Haltung des Menschen zu seinem Tod. Der Geburtstag paukt den Tod ein, die Unterteilung des individuellen Lebens durch ganze Zahlen: 13 Jahre, 21, 40, 91; die dritte Null, die fünfte, toi, toi, toi.

Genauso sträubt sich die Menschheit gegen die kalendarischen Neujahre – nicht allein, weil sie vor der Zukunft abergläubisch auf der Hut ist. Einmal im Jahr wird der Spalt zwischen zwei Sekunden zum Gegenstand des Massenkonsums, und man kann – ja, muss – einen Blick werfen in diese zeitlose Finsternis, in welche das restliche Jahr nur die Dichter blicken. Das neue Jahr erinnert jedes Jahr neu an das Ende der Welt, deshalb wird es so fleißig mit Feuerwerk bekämpft und mit dem Zischen aus Champagnerflaschen gedämpft. Die christliche Zivilisation hat den Lebensrhythmus der Menschen überdies mit dem Lebensrhythmus des Gottmenschen verbunden und ist eine Zivilisation mit doppelten Zügeln, die das Römische Kalenderrad zur geraden, einspurigen Schmalbahn zurechtgebogen hat, deren Schienen über einem Abgrund abzubrechen drohen. Wer weiter will, muss fliegen.

Aber auch hier ist das Neue Jahr ein aufgenötigtes Fest. Die christliche Menschheit feiert Christi Geburt – eine Ankunft, nicht ein Weggehen, und zudem so, als sei es bereits eine zweite Ankunft. Im Kalenderjahr geht Ostern Weihnachten voraus, das Neue Jahr ist ein Schwarzes Ostern, eine unbekannte Auferstehung. Die Menschheit ahnt, was Jakow Drusskin – Mathematiklehrer und AmateurMusikwissenschaftler in Leningrad – im Jahre 1939 schrieb; der Text heißt „Der Weltuntergang“: Vielleicht naht er sich ein jahr lang und es wird unbedingt die heiße zeit sein: er beginnt im juli und er endet im juli. Womöglich beginnt er so: durchs fenster oder auf der straße sehe ich einen menschen, der mit nichts von den anderen absticht, außer seinem gang – er geht etwas langsamer und konzentrierter als die anderen ... Nachdem man ihm einige male begegnet ist, wird irgendwo, wo viele leute versammelt sein werden, vielleicht auch in jedem haus, jemand, sich an irgendeinen vorfall erinnernd, auf einmal sagen: „Das war damals, als dieser mensch, der langsam geht, erschien.“ Und das wird dann angst sein... Und der ganze juni wird heiß und sonnig sein, und sollte es doch regnen, dann nur, damit die menschen nicht vor der zeit sterben. Und im juli geschieht der weltuntergang.

Das Ende der Welt ist nicht ein Moment, sondern ein Prozess mit einer komplizierten Struktur aus Aufstieg und Fall, eine besondere Zeit, unheimlich zugleich und erwünscht. Im Deutschen wird die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr „Zwischen den Jahren“ genannt, aus der allgemeinen Folge der Tage gleichsam ausgenommen. Eine siebentägige taube Unzeit, wo man nicht weiß, was man tun soll, wie leben, mit welchen Götterfunken ihre Kälte und Finsternis, Stille und Stillstand bekämpfen, mit welcher Lustbarkeit dämpfen. Dieses Zwischenstück zwischen den Jahren schenkt Vergessen mit der unerklärlichen Kälte, die aus dem Spalt zwischen den Sekunden zieht. Man ist noch bemüht, den Kindern Freude einzutrichtern: mit Geschenken, Vergnügungen, mit der Befreiung vom Unterricht, und die Kinder freuen sich wie an ihren Geburtstagen – und mit demselben früher oder später eintretenden Resultat. Deshalb wollen die westlichen Menschen ewig Kinder bleiben. Nun ja, wenigstens Halbwüchsige.

In der Westlichen Welt, die erstickt an ihren Siegesfeiern und vergessen hat – ja im Grunde nie zu wissen wünschte – dass alle Siege Pyrrhussiege sind , wird die Dauer der so genannten Vorweihnachten von Jahr zu Jahr länger. Bereits im Oktober fängt diese nass und matt glänzende Zeit sachte an zu beginnen. Irgendwo, irgendwann und peu à peu illustrieren Schaufenster und Fernsehreklamen erste Gedanken an Geschenke und Ferienreisen – Anfälle der festlich erstickenden Leichtigkeit des Kindseins. Es heißt, die Ursache dafür sei das Interesse der Ökonomen an Erweiterungen der weihnachtlichen Verschwendung. Dem ist freilich so, aber es hindert uns zu sehen: Der Spalt zwischen den Zeiten rückt auseinander, unterspült langsam das Ufer des Ein-Ufer-Flusses.

Nicht die messianische Zeit selbst, sondern der Platz für die messianische Zeit wird langsam und unaufhaltsam breiter. Und vielleicht wird sie irgendwann im Juli beginnen.

Der Text ist ein Ausschnitt aus Oleg Jurjews Roman „Der neue Golem oder Der Krieg von Kindern und Greisen“, der im Herbst 2003 bei Suhrkamp erscheinen wird. Aus dem Russischen von Elke Erb und Olga Martynova .

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