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Kultur: Zwischen Koran und Coca-Cola

Städtebauer und Architekten diskutieren über den Wiederaufbau von Kabul. Der neue Masterplan für die afghanische Hauptstadt ist bereits in Arbeit

Wenn Mirajan Sahebi durch den dichten Verkehr von Kabul fährt, lässt ihn die Erinnerung an die Vergangenheit nicht los. Vor zehn Jahren stand der afghanische Geschäftsmann das letzte Mal an der Straße zum ehemaligen Königspalast. Damals spielten hier die Kinder. Sie suchten im Schatten der Bäume Schutz vor der Sonne oder versteckten sich im Garten des Kabul-Museums, einer der bedeutendsten Sammlungen zentralasiatischer Kunst.

Von der Idylle ist nichts geblieben. Der Stadtteil in Sichtweite des Darulaman-Palastes gleicht einem Trümmerfeld. Allenfalls eine archäologische Grabung würde man hier vermuten. Kein Haus hat sein Dach behalten, von den meisten Gebäuden ragen nur noch Wände in den stahlblauen Himmel. Und die Bäume am Straßenrand sind abgebrannte Stümpfe. Trotzdem ist das, was der Bürgerkrieg vom Süden Kabuls übrig ließ, immer noch mehr als die Überreste von Sahebis Heimatdorf im Westen Afghanistans. Dort tobten die Kämpfe heftiger: Seitdem existiert der Geburtsort von Sahebi, der nach dem Einmarsch der Mujaheddin 1992 seine Handelsgeschäfte im Ausland fortsetzen musste, nur noch als Eintrag im Pass.

In seinem gerade frisch renovierten Haus im Kabuler Diplomatenviertel Wazir Akbar Khan hat der studierte Geologe ein knappes Dutzend Geschäftspartner versammelt: zwei Architekten aus dem usbekischen Taschkent, einen Bauingenieur aus der Türkei, einen Techniker aus dem pakistanischen Peshawar und Bekannte aus allen Landesteilen. Die Ausländer sind zum ersten Mal zu Gast in Sahebis Haus, einem Mitte der Sechzigerjahre errichteten Bungalow. Wie durch ein Wunder überstand er den Bürgerkrieg und die Taliban-Diktatur. Mit seiner betont europäischen Gestalt muss der Bau seinerzeit ebenso fremd gewirkt haben, wie heute die Satellitenanlage mit ihren 120 TV-Programmen, die Sahebi gerade von einem örtlichen Fernsehmechaniker installieren ließ. Weil Handys nur eingeschränkt funktionieren und das analoge Telefonnetz zeitweise ausfällt, ist die Anlage die einzige zuverlässige Verbindung zur Außenwelt.

Seit dem Einzug der internationalen Schutztruppen kehrt langsam der Alltag zurück. Auf den Basaren werden wieder Produkte aus Pakistan angeboten, die Straßen im Zentrum sind nach Sonnenuntergang nicht mehr nur mit patroullierenden Soldaten, sondern auch mit Passanten gefüllt, und überall zeugen Baustellen von der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Sahebis Gäste sind nach Kabul gekommen, um an der ersten internationalen Konferenz zum Wiederaufbau des Landes teilzunehmen. Das Ministerium für Stadtentwicklung und Wohnungsbau hat dazu knapp 200 Stadtplaner und Architekten aus 25 Ländern eingeladen, um über einen neuen Masterplan zu diskutieren, der in Kürze vorgelegt werden soll.

Dafür hat Wiederaufbau-Minister Yousuf Pashtun den Karlsruher Städtebau-Professor und Exil-Afghanen Abdullah Breshna verpflichtet, der in seiner Heimatstadt den Abstimmungsprozess für den ersten Generalplan seit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahr 1979 koordinieren soll.

Autobahnen in die Zukunft

Keine leichte Aufgabe: Was Breshna sich vorgenommen hat, erscheint in einer zu 50 Prozent zerstörten Stadt wie Kabul schier unmöglich. Der grauhaarige Professor, der wie Sahebi über zehn Jahre lang nicht mehr in seiner Heimat war, soll einen Plan erarbeiten, der Nothilfe und Kulturschutz miteinander vereint. Einerseits gilt es, für die Bevölkerung ein Wasser-, Strom- und Kommunikationssystem aufzubauen; andererseits muss der Masterplan auch eine Vision, ja ein Angebot zur Identifikation für alle Hauptstädter beinhalten. Doch ist das in einer Gesellschaft, in der Frauen lange Zeit aus dem öffentlichen Leben verbannt, Cafés geschlossen und Radiosendungen durch religiöse Reden ersetzt worden waren, innerhalb eines Jahres möglich? Die Konferenz kann diese Frage kaum beantworten.

Stattdessen skizzieren Exil-Afghanen ihre Vorstellungen von einem künftigen Kabul - mit einem mehrspurigen Autobahnring, der um die Zwei-Millionen-Metropole herumgeführt werden soll. Ein Verkehrsexperte aus den USA referiert über den Sinn einer angemessenen Gestaltung von Autobahnabfahrten. Die Höflichkeit gebietet es den Gastgebern, freundlich dazu zu nicken, wohl wissend, dass dies ein Luxusproblem darstellt. Andere wollen immer wieder wissen, wer all das denn zahlen solle, und so bleibt am Ende der Konferenz ein offener Fragenkatalog. Immerhin bildet er eine Art roten Faden für den neuen Masterplan.

Eine Diskussion kommt erst auf, als es um das baukulturelle Erbe Afghanistans geht. Wie erhaltenswert sind die Überreste der Denkmäler, und lassen sie sich überhaupt wieder aufbauen? Und: Wie lässt sich die Altstadt Kabuls vor anonymen Bürobauten bewahren? Einigkeit herrscht über den Wiederaufbau des Königspalastes und des Kabul-Museums, während die Debatte über die Erhaltung der Altstadt zunächst auf Unverständnis stößt. Warum sollten gewachsene Strukturen ohne Anschluss an die Kanalisation erhalten bleiben? Wo fängt die Altstadt überhaupt an, wo hört sie auf? Ein indischer Baugeschichtler will wissen, mit welcher Strategie man die historischen Monumente der Altstadt vor den illegal errichteten Wohnbauten schützen könne. Die Vertreter des Ministeriums sind an dieser Frage interessiert, aber wie sie ihren Landsleuten plausibel machen können, dass wertvoller Wohnraum einer denkmalpflegerisch korrekten Idee geopfert werden sollte, wissen sie nicht.

Auch über die Siedlungen mit den eingeschossigen Hofhäusern wird debattiert. Diese Siedlungen, die an den baumlosen Hügeln unkontrolliert emporgewachsen sind, prägen das Stadtbild. Zwar haben einzelne Fassaden inzwischen einen farbenfrohen Anstrich erhalten, die hygienischen Verhältnisse sind jedoch katastrophal: Viele Siedlungen entbehren fließendes Wasser. Kinder schöpfen es zwei Mal am Tag aus einem Brunnen, um es in Kanistern und Eimern ins Elternhaus zu tragen. Vehement setzt sich eine Konferenzteilnehmerin dafür ein, die Spontanbehausungen in die Stadtstruktur zu integrieren, anstatt die Bewohner wie zu Sowjetzeiten in anonyme Plattenbauten umzusetzen. Man müsse einen Plan erarbeiten, wie diese Stadtteile lebenswerter gestaltet werden könnten.

Überall in Kabul zeugen große Baustellen-Schilder von der Wiederaufbauhilfe ausländischer Organisationen. Die Mehrzahl der Projekte – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser – werden im Rahmen der Nothilfe realisiert. Antragsfristen und lange Genehmigungsphasen werden zugunsten einer zügigen Fertigstellung vermieden. Doch der möglicherweise bevorstehende Irak-Krieg und die Misserfolge bei der Terroristen-Bekämpfung werfen einen Schatten auf diese Hilfe. Erst kürzlich beklagte der afghanische Außenminister Abdullah Abdullah zu niedrige internationale Finanzhilfen. In anderen ehemaligen Bürgerkriegs-Regionen wie Ruanda, Bosnien, dem Kosovo oder Ost-Timor stünden pro Kopf und Jahr durchschnittlich 250 Dollar zur Verfügung, in Afghanistan sei es nur ein Viertel davon. Wenn das Monatsgehalt eines Beamten bei 40 Dollar liege, die Miete für ein Haus in Kabul aber das Zehnfache betrage, bleibe das Land auf Finanzhilfe angewiesen. Neben den ethnischen Konflikten drohten soziale Spannungen, die eine Rückkehr zur Normalität behinderten.

So ist das Leben in der Hauptstadt von Pragmatismus und Improvisation gekennzeichnet – Tugenden, die die Bevölkerung sich unter dem Taliban-Regime notgedrungen angeeignet hat. Mehr als 200 Nicht-Regierungs-Organisationen haben sich inzwischen bei den Ministerien registrieren lassen und mit der Arbeit begonnen. Auch Mirajan Sahebi setzt nicht nur auf Hilfe von außen. Er ìmportiert Baustoffe aus Usbekistan. Und denkt darüber nach, eine still gelegte Kalksandsteinfabrik in Deutschland zu kaufen und in Afghanistan wieder aufzubauen. Das Grundstück dafür stellt ihm sein Cousin zur Verfügung: eine alte Lkw-Fabrik an der Straße zum Bundeswehr-Camp.

Während das Stadtbild von Kabul mittlerweile auch von westlichen Zigaretten-Marken, Coca-Cola-Reklame und nagelneuen Geländewagen gerpägt wird, trägt die Mehrzahl der Frauen noch immer die herkömmliche Burka. Auch wenn dies ein Zeichen dafür ist, dass der blaue Umhang mehr eine Jahrhunderte alte Tradition denn eine Erfindung der Taliban ist, repräsentieren vor allem die Frauen eine Gesellschaft im Umbruch. Unter dem seidenen Überkleid tragen viele von ihnen Schuhe mit hohem Absatz oder einen kurzen Rock. Schleichend vollzieht sich die Emanzipation; etliche Frauen gehen wieder ohne Begleitung eines männlichen Familienangehörigen über die Straße. Manche Händler haben sogar damit begonnen, Burkas als Souvenir an ausländische Besucher zu verkaufen – zum Stückpreis von knapp fünf Dollar. Auch das gehört zum Alltag der wieder erwachenden Metropole Afghanistans.

Philipp Meuser

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