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Musik in Wedding: Jamsession im Kiki Sol - die Kneipe als Begegnungsort

Die Jamsession im "Künstler- und Studententreff Kiki Sol" berührt und verbindet: Jeden Mittwoch und Freitag treffen sich hier Musikfreaks aus dem Wedding und Umgebung - die Kneipe ist zum Begegnungsort im Kiez geworden.

Ausgestorben liegt der Nettelbeckplatz um den Vulkanbrunnen herum. Freitagnacht. Geisterstunde. Nur aus einem Türspalt kommt Musik. Drinnen sitzen sie im Schneidersitz auf Perserteppichen: Dreadlockträger und Späti-Verkäufer, Versicherungsangestellte und Langzeitstudentinnen, streichen die Geigen, stimmen die Ukulelen, singen spontane Serenaden. Was geht hier vor sich?

Ein muffiges Automaten-Spielcasino war es noch vor kurzem, aber dann kam Mehmet Kirmizigül und hat daraus den „Künstler- und Studententreff Kiki Sol“ gemacht. Jeden Mittwoch und Freitag kommen sie zusammen, die Musikfreaks aus dem Wedding und Umgebung, sie rasseln, zupfen und klimpern zur Jamsession – meistens, bis die Sonne aufgeht.

Kirmizigül sitzt am Tresen, sein eigener Stammgast, und raucht. Mit vier Jahren ist er aus dem anatolischen Gaziantep in die Pankstraße gezogen. Seitdem er 22 ist, hat er immer eine Kneipe oder ein Café betrieben, meistens hier im Wedding. Eine Kiezgröße, auch wenn er jetzt am Mehringdamm wohnt und dem Wedding untreu geworden ist. Mit dem Kiki Sol hat er im Kiez nun einen Begegnungsort geschaffen, in den sie alle kommen – Alte, Junge, Türken, Deutsche; viele Studenten, aber eben nicht nur.

Der Abend ist gemächlich gestartet. Gegen halb zehn haben drei Jungs erst einmal ein paar Popsongs auf der Gitarre gespielt. Dann gesellt sich eine orangefarbene Posaune dazu, ein Mini-Akkordeon, sogar ein Umhänge-Keyboard; der Klangteppich wird breiter, die Songs verspielter.

Die Musik bringt die Leute zusammen, aber auch Kirmizigüls Art: Viele der Gäste sind seine Freunde geworden, dauernd kommt jemand vorbei, dann gibt es Handshake und großes Hallo. „Es ist toll, wenn alle das Gefühl haben, hier richtig zu sein“, sagt er zwischen zwei Begrüßungen, „ich möchte, dass sich alle wohl fühlen, wie im eigenen Wohnzimmer. Oder meinetwegen wie bei Oma“. Kirmizigül lacht. Und doch scheint was dran zu sein: Die Atmosphäre der Jamsession ist wie auf einer Geburtstagsparty mit lauter alten Freunden, als kenne jeder jeden. Und trotzdem kommen hier gerade auch Wildfremde miteinander ins Gespräch.

„So viele unterschiedliche Leute sind hier“, sagt Alla Ferranca, 45, aus der Ukraine: „Es ist wie ein gemischter Salat.“ Sie lacht: „Mein Deutsch ist nicht perfekt, aber wenn ich hier mit den anderen Musik mache, fühle ich mich zugehörig.“ Auch das ist es wohl: Das starke Gemeinschaftsgefühl, wenn einzelne Töne und Stimmen ein Gesamtbild ergeben.

Gäste der Jam Session im Kiki Sol
Die Musiker im Kiki Sol sitzen und spielen im ganzen Raum verteilt - der Raum selbst ist die Bühne.

© David Heerde

2009 schon eröffnete Kirmizigül das Kiki Sol, damals allerdings an der Lindower Straße. Die Räume waren auf Dauer zu klein, eine neue Location musste her, es fand sich der leerstehende Spielsalon. Jetzt gibt es zwei Läden mit dem gleichen Namen: Aus dem alten Kiki Sol hat Kirmizigül einen Kulturverein gemacht, in dem er und andere Freiwillige nachmittags Hausaufgabenhilfe, Türkischunterricht und Kunstworkshops geben. Und im neuen Kiki Sol empfängt er das Nachtleben.

Die Raumtemperatur steigt so langsam. Da kommt die Querflöte, runde Brille und fliegende Finger: Es ist der Amerikaner Jerry Blue, hauptberuflich Klavierspieler. Abends tingelt er mit seiner Querflöte zum Spaß durch die Jamsessions der Stadt. Das Besondere im Vergleich zu anderen Sessions? „Jeder fühlt sich hier sofort zuhause“, sagt er. „Hier muss nicht alles perfekt sein, und es gibt keine Grenze zwischen Publikum und Musikern“. Hier sitzen alle verteilt im Raum. Der Raum selbst ist die Bühne.

Um dem alten Casino den Charme einer Studentenkneipe einzuhauchen, haben Kirmizigül und seine Freunde monatelang geschuftet, haben Gerümpel und Automaten aussortiert und Retro-Lampenschirme vom Flohmarkt besorgt. Im Juni war die Eröffnung, aber noch immer gibt es viel zu tun, Kirmizigül kommt kaum zum Schlafen, und wenn, dann auf dem Sofa hier im Laden. Denn außer montags ist hier immer Programm: Donnerstag und Sonntag ist normaler Barbetrieb, dienstags gibt es Stand-up-Comedy, samstags im Zwei-Wochen-Wechsel Konzert und Kiezquiz, und Mittwoch und Freitag eben die Jamsession. Die gab es auch schon im alten Kiki Sol, sie ist aber im neuen nochmal so richtig aufgeblüht.

Wer wann was spielt, das wird ohne Worte verhandelt. Zwei Blicke, ein Nicken, da ergreift eine Frau mit türkisfarbenem Turban das Mikrofon und singt mit rauchiger Stimme und rollendem Akzent „Nur nicht aus Liebe weinen“ von Zarah Leander. „Wir kamen von Süden und Norden, mit Herzen so fremd und so stumm...“

Mehmet Kirmizigül wird nachdenklich: „Manchmal“, sagt er, „spielen und singen sie hier so wunderschön, dass ich denke, man sollte das irgendwie festhalten. Aufnehmen oder so.“ Aber vielleicht ist gerade das ja der Reiz dieser nächtlichen Treffen: Jede gefundene Melodie und jede improvisierte Wortfolge erklingt eben nur dieses einzige Mal, nur in diesem Augenblick.

Halb fünf ist es schon, als sich die Stille endgültig über den dunklen Platz und seinen Brunnen legt. Der letzte Gast ist gegangen. Zeit für Mehmet Kirmizigül, sich aufs Sofa zu legen.

- Kulturverein Kiki Sol: Lindower Straße 12. Türkischkurs für Lehrkräfte Donnerstags ab 18:00 Uhr, Kinderkunstkurs Dienstags  17:30 – 19:30 Uhr

- Künstler- und Studententreff Kiki Sol: Reinickendorfer Str. 106. Geöffnet Dienstags-Sonntags ab 20 Uhr. Dienstags Stand-Up-Comedy, Mittwochs und Freitags Jamsession, jeden zweiten Samstag Kiezquiz.

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