zum Hauptinhalt
Rafael van der Vaart (links) sah in der Nachspielzeit gegen Stuttgart unnötig die fünfte Gelbe Karte.

© Imago

Der unrühmliche Abgang von Rafael van der Vaart: Der Kapitän verlässt das sinkende Schiff

Das Spiel gegen den VfB Stuttgart war wohl Rafael van der Vaarts letzte Begegnung für den abstiegsbedrohten Hamburger SV. Was bleibt von dem Mann, der einst als neuer Uwe Seeler galt? Nichts als Enttäuschung.

Wer da wohl alles zusammenkommen wird, wenn der Hamburger SV von Mittwoch bis Freitag sein Trainingslager in Malente bezieht? Man darf sich das vorstellen wie eine Séance im schwachen Kerzenschein des Tabellenkellers. Als Spuk und Gegenspuk. Als den verzweifelten Versuch einer Telekinese des ganzen Vereins auf einen Relegationsplatz. 

Der Geist von Malente, Experte in solchen Dingen, ist naturgemäß schon da. Auch Uwe Seeler ist zugegen, schon weil der dortige Sportpark seinen Namen trägt, und weil er einfach überall ist, wo der HSV sich gerade aufhält, und sei es als dichte Wolkendecke, die sich sorgenvoll über den Großraum Hamburg legt. Selbst Charly Dörfel wird in Malente sein, als die Erscheinung eines traurigen Clowns auf den Korridoren, ebenso wie Horst Hrubesch, das Kopfballungeheuer unterm Bettlaken, das Pierre-Michel Lasogga heimsucht und an seine verdammte Pflicht erinnert.

Vielleicht weint Frank Pagelsdorf auf einer Pritsche Tränen in Rautenform, vielleicht sitzt Heidi Kabel neben ihm und trauert um Hamburg. Das Wiedererwecken eines Toten ist in Wahrheit nämlich gar nicht so leicht wie in einem Ohnsorg-Schwank. Man hört schon das nächtliche Wehklagen des Dinos Hermann, der schlaflos durch die Rhododendren der Malenter Gartenanlage irrt. „Kippe?“, fragt Ernst Happel aus der Dunkelheit. Fossilien müssen ja schließlich zusammenhalten.

„Eine Katastrophe für die Stadt Hamburg und den HSV“

Vor dem Spiel gegen den FC Schalke 04, das das letzte sein könnte, bevor die ewige Bundesliga-Uhr in der Arena stehenbleibt, gibt der HSV sich also die historisch-spiritistische Dröhnung. Wenn man, wie die deutsche Nationalmannschaft 1974, von Malente aus Weltmeister werden kann, muss doch auch der Abstieg zu verhindern sein – „eine Katastrophe für die Stadt Hamburg und den HSV“, wie Uns Uwe ihn übrigens nennt. Wer die zwingende Notwendigkeit eines Sieges jetzt nicht begreift, dem ist alles egal. 

Nur einer wird nicht dabei sein, weil er sich ganz offenbar dagegen entschieden hat, in die Geschichte des Vereins einzugehen, jedenfalls in jene, von der ein HSV-Fan seinen Enkeln erzählen möchte. Vielleicht auch, weil ihm wirklich alles egal ist: Rafael van der Vaart hat sein letztes Spiel für den HSV wohl bereits hinter sich. In der Nachspielzeit der Partie gegen Stuttgart holte er sich wegen eines Remplers an der Eckfahne und anschließendem Lamento seine zehnte Gelbe Karte ab und ist damit gegen Schalke gesperrt. „Auch das noch“, hieß es Sekunden danach auf dem Twitter-Account des Vereins. 

Man kann diesen Stoßseufzer durchaus auf zwei Weisen verstehen: Jetzt fehlt der Mannschaft im Schicksalsspiel auch noch der Kapitän – oder: Jetzt stiehlt er sich auch noch aus der Verantwortung.

Die Szene in der 93. Minute wirkte so demonstrativ lustlos und bockig, dass man tatsächlich auf den Gedanken kommen könnte, van der Vaart habe nicht gerade auf seine Teilnahme im letzten, alles entscheidenden Spiel gebrannt. Wobei ein Mann, der gegen Stuttgart nur läppische 19 Prozent seiner Zweikämpfe gewann, ohnehin außer Verdacht steht, noch für seinen Sport zu brennen. Wäre Rafael van der Vaart ein Kind und das Spiel gegen Stuttgart ein Geburtstagsfest gewesen, jemand hätte wohl seine Eltern angerufen und sie gebeten, ihn schleunigst abzuholen. 

Eine Marke ohne Kern

Gleich zweimal haben die Hamburger versucht, diesen Rafael van der Vaart zu ihrem neuen Uwe Seeler zu stilisieren, einem Kapitän in bester hanseatischer Seefahrertradition – sturmfest, loyal, vorbildhaft. Den ersten Versuch führte er 2007 selbst ad absurdum, indem er freudestrahlend ein Valencia-Trikot in die Kameras hielt, dann aber doch zu Real Madrid wechselte. Egal wohin, bloß weg hier. Zu Beginn seiner zweiten HSV-Periode ab 2012 wurde er, erstaunlich genug, erneut als Heilsbringer präsentiert, verkam aber an der Seite seiner damaligen Gattin Sylvie, halbbekannt als klemmender Moderationsautomat einer RTL-Tanzschule, zusehends zu einer Figur aus deren dubioser Branche: zu einem C-Promi, dessen tatsächliche Leistung weit hinter der Medienaufmerksamkeit zurückblieb, die ihm zu zuteil wurde, zu einer Ich-AG, die sich auf den Vertrieb peinlich berührender Homestories spezialisiert hatte, zu einer Marke letztlich ohne Kern.

Anti-Seeler und Uns Rafael

Nun verlässt dieser Boulevard-Kapitän das sinkende Schiff als Erster. Und wird dadurch auf traurig-paradoxe Weise doch noch zur Symbolfigur, zum Anti-Seeler und Uns Rafael: Er steht wie kein anderer für den leckgeschlagenenen, manövierunfähigen Riesentanker namens HSV. Und zugleich für den bestürzenden Identitätsverlust des modernen Fußballprofis, ob er nun van der Vaart heißt, Kevin-Prince Boateng oder Mario Balotelli: Immer weniger scheinen ihm Ruhm und Ehre zu bedeuten, immer weniger ist er bereit, für seinen Platz in den Herzen der Fans zu kämpfen. Am entschlossensten zeigt er sich noch im offiziellen Merchandising-Katalog zu Beginn der Saison, mit sorgsam zurechtgemachter Heldenvisage und künstlichen Grashalmen auf der befeuchteten Stirn.

Reicht ihm das Geld, das ihm die Vereine per Vorkasse für sein vermeintliches Potenzial zu zahlen bereit waren? Wie lebt es sich, wenn man die Lieferung zeit seiner Karriere schuldig bleibt? Die Blasiertheit des modernen Fußballprofis steht im krassen Gegensatz zu der unschuldigen Vorstellung des Fans, was er selbst zu geben bereit wäre, um an seiner Stelle zu sein – nämlich alles, was er hat. Sein Phlegma ist eine permanente Beleidigung jeglicher Leidenschaft für den Fußball – und Ursache für die schleichende Entfremdung von ihm.

Selbst wenn die Séance von Malente den Abstieg nicht verhindern kann, wenn Frank Pagelsdorf vergeblich weint und Dino Hermann ausstirbt, wird Uwe Seeler sich in Zukunft eine Sorge weniger machen müssen: Ein drittes Mal wird Rafael van der Vaart wohl kaum beim HSV anheuern. Das sind die Trümmer, auf denen man den Verein neu aufbauen kann.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung von 11FREUNDE.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false