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Tagesspiegel-Liveticker: Unheilig in Stefans Dome

Trotz sichtlicher Unlust verwandelte Stefan Raab die Max-Schmeling-Halle in seine Arena. Und nutzte den Bundesvision Song Contest als Werbesendung mit Überlänge. Gewonnen haben Unheilig. Doch der Sieger ist Raab selbst. Nicht unter den Gratulanten: der Ticker!

23:52 Uhr

Damit endet ein musikalischer Abend in Berlin, der zu keiner Zeit über das Niveau einer Time-Life-Dauerwerbesendung für das Best-Of der Flippers herauskam. Es war eine dreieinhalbstündige Plakataktion für Stefan Raab, der die Schmeling-Halle trotz fehlender Motivation und geistiger Abwesenheit in seine Kathedrale verwandelt hat und ab Montag wieder die Verwertungsmaschinerie anwerfen wird. Wir dürfen uns also auf TV-Total-Sendungen mit Unheilig, einen Schlag den Raab-Auftritt von Adel Tawil und eine Wok-WM mit den Jungs von Blumentopf freuen. Bleibt also nur, mit den Worten von Peter Lustig zu schließen. Denkt dran, liebe Kinder: Abschalten.

Der Ticker verabschiedet sich von Henry Maske und in die Kreuzberger Nacht, die bekanntlich eine lange ist. Mit dabei: Ich und Annette Humpe. Vielleicht aber auch nicht.

In diesem Sinne: Gute Nacht!

23:50 Uhr

Damit hat Nordrhein-Westfalen den Sieg in den eigenen unheiligen Händen. Und das Bundesland, das noch nie zwölf Punkte an sich selbst vergeben hat, vergibt diesmal zwölf Punkte an sich selbst. Unheilig gewinnen den Bundesvision Song Contest, diesen musikalischen Marathon für Einbeinige. Bernd Heinrich Graf nimmt die Trophäe, "den ersten Preis, den ich je gewonnen habe", entgegen. Stefan Raab versucht noch einmal gegen die eigene Unlust, die Sättigung, die sich in seinem Gesicht spiegelt, anzumoderieren. Gibt dann aber schnell auf und lässt Unheilig noch einmal singen.

23:45 Uhr

Noch einmal begrüßt Raab das Publikum in seiner Arena. Schwingt die Peitsche und schaltet ins Kudorf, der unterirdischen Partymeile am Kurfürstendamm, dem Epizentrum der Flatrate-Party, wo Bussa und Basti von NRJ in einer Wand aus Atzen versinken. "Berlin, Berlin" schallt es in den Katakomben, in denen Sangria und Alcopops von den Wänden rinnen. Sechs Punkte gehen nach München, sieben ins Umland. Unheilig bleibt an der Spitze mit weiteren acht Punkten. Und dann, tatsächlich, der Schock: Berlin gibt Berlin nur zehn lächerliche Punkte. was aber im Kudorf niemand mitbekommt. "Berlin, Berlin", dröhnt es weiter. Aber das würde es auch tun, wenn dort Freibier ausgschenkt werden würde. Und: Wenn das Berlin ist, hat Berlin auch keine zwölf Punkte verdient.

23:38 Uhr

Weiterhin ganz vorne: Unheilig, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Berlin, das aber schon abgeschlagen zurückliegt. Das sieht nicht gut aus für die Hauptstadt. In Stuttgart aber ist die Optik auch nicht besser. Dort wird das Ergebnis von einem Paris-Hilton-Double verlesen, das sich extra für diesen Anlass das Traumkleid aus seinem Lieblings-Disney-Film hat schneidern lassen. Würde man sie lassen, würde sie auch noch mit Tieren singen. Stattdessen aber bekommt Unheilig auch aus Stuttgart 12 Punkte. Kein Märchen, keine singenden Tiere. Sondern nur das banale Ergebnis einer gut lancierten Kampagne. Schließlich waren Graf und seine Band schon vor dem Beginn dieser Veranstaltung der klare Favorit auf den Sieg. Es ist das Konzept der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, der auch schon Lena den Triumph in Oslo eingebracht hat. Und am Ende gewinnt doch nur einer: Raab selbst. Der Mann, der auch heute Abend wieder Clown und Dompteur der Massen in einer Person ist.

23:35 Uhr

Auf dem Brocken (nicht im Bild Ottfried Fischer), stehen die SAW-Moderatoren und halten seltsam altmodische Michael-Buffer-Mikrofone in den Händen. 12 Points to Sachsen-Anhalt. Berlin bekommt sieben. Wowereit schaltet sich wieder dazu und storniert sämtliche Kurztrips in den Harz.

23:30 Uhr

Im Löwenbräukeller in München, gerade im Epizentrum der Herbstfeierlichkeiten, herrscht angenehme Ruhe. Die Moderatorin trägt ein zünftiges Dirndl. Der Moderator hat sich in der Garderobe von Tim Wiese bedient. Die Münchner jedenfalls schenken Berlin sieben Punkte, um dann aber, natürlich, Blumentopf die vollen zwölf Punkte auf die mittlerweile viel zu lange Baggypants zu sticken.

23:28 Uhr

Aus Thüringen melden sich zwei "Thüringer Bratwürste", wie sich die Thüringer Bratwürste nennen, schicken sechs Punkte nach Berlin und kollabieren bei dem Versuch, gegen ganz Thüringen anzuschreien. Können aber mit letzter Kraft noch zehn Punkte an Silly verteilen und 12 Punkte an Norman Sinn & Ryo, "unsere Bratwürste", wie die schreiende Bratwurst gröhlt. Die Stimmungslage weiterhin: Geil.

23:23 Uhr

Schleswig-Holstein schickt Punkte nach Brandenburg, das damit vor Berlin gespült wird. Platzeck feiert, Wowereit verabschiedet sich. Das will er sich nicht weiter zumuten. So verpasst er die Punktevergabe in Hessen und aus dem Saarland, wo sich der Moderator aus seiner Garage meldet. Nie war der Name BigFM deplatzierter.

23:20 Uhr

Zurück in Berlin. Bisher führt NRW vor Sachsen-Anhalt. Berlin ist immerhin Dritter. ProSieben schaltet Klaus Wowereit hinzu, der die Merkel-Daumen triumphierend in den Nachthimmel hält, weil er diesen Zwischenstand für die Ergebnisse der neuesten Pisa-Studie hält.

23:15 Uhr

In Brandenburg spiegelt sich die Problematik der Stadtflucht auch in der Punktevergabe, Berlins Umland vergibt nur acht Punkte an sich selbst, was den Radiomoderator mit dem ratlosen Platzeck-Mienenspiel zurück lässt, als hätte ihm jemand die neueste Demografie-Tabelle unter seine Karteikarten gemischt.

23:12 Uhr

Wenn sich jemand heute Abend ein Bild dieses Landes machen wollte, und er würde aus unerfindlichen Gründen nur diese Sendung sehen können, würde er den Eindruck bekommen, Deutschland bestehe ausschließlich aus grenzdebilen Brülllarven und in der deutschen Bevölkerung habe sich, frei nach Darwin, nur durchgesetzt, wer eine gewisse Dezibelzahl nicht unterschreitet. Bleibt nur die Frage zu klären, wo die einzelnen Radiosender ihre Cheerleader gecastet haben, und ob heute in jeder Dorfdisco Deutschlands gähnende Leere und akuter Herrenüberschuss herrscht.

23:10 Uhr

Nach einer kurzen Schleife über Thüringen, die Unheilig 12 Punkte auf die Glatze kleben wie früher nur Stoffi-Sticker ins Poesie-Album, geht die Flatrate-Party in Sachsen weiter, wo zwei Radiomoderatorinnen Slash Friseurinnen in Tricolore-Optik und sichtlich ungesunder Münzmallorca-Bräune die Ergebnis verlesen und dann nach Bremen schalten, wo tatsächlich dieselben Schrei-Girls wie in Hamburg stehen. Bremen schenkt sich selbst 12 Punkte. Die Kleinstadthelden feiern einen erwartbaren Triumph wie einen Sieg über den weißen Mann und spielen dann weiter Cowboy und Indianer.

23:05 Uhr

Raab schaltet nach Hamburg, der Kiez ertrinkt in pubertärem Dorfdisco-Gekreische, weil ProSieben den Moderatoren von Radio NRJ eine Horde angesoffener Flatrate-Gören an die Seite gestellt hat. Das erinnert vom Geräuschpegel an die alten Anne-Will-Interview auf der Loveparade, nur ohne homosexuelle Gogos. Und weil sich Hamburg ohnehin gerade an sich selbst berauscht, schickt die Hansestadt 12 Punkte direkt nach Hamburg. Freu, bzw. Gröhl.

23:00 Uhr

Und dann doch. Die Leitungen sind geschlossen. Das Publikum schreckt wieder hoch. Raab und Klum warten auf die ersten Punkte. Ist ja auch bald Samstag.

22:50 Uhr

Die Max-Schmeling-Halle will kollektiv ins Bett, aber noch feiert Raab seine Party, die durch unzählige Werbeunterbrechungen in die Länge gezogen wird, die nerviger sind, als ein aktuelles Sportstudio mit Kathrin Müller-Hohenstein. Der nächste innere Reichsparteitag verzögert sich um 20 Minuten.

22:45 Uhr

Um die Hauptstadt aus dem nun doch eingetretenen Dämmerzustand zu reißen, vielleicht aber auch, um Sendezeit zu füllen. zeigt Raab jetzt Peter Fox' Auftritt vom vergangenen Jahr. Paviane am Kontrabass, Schimpansen an der Steeldrum und mit einem Mal wird deutlich, was dieser Veranstaltung hier fehlt: Peter Fox oder zumindest ein echter Künstler mit einer Idee, einem Titel, den man auch noch im Kopf hat, nachdem Schwarz zu Blau geworden ist. Hier aber nur Einheitsbrei mit der Gehörgangs-Halbwertzeit eines Sahnebaiser unter fließend Wasser.

22:40 Uhr

Raab und Klum ergehen sich nun zum wiederholten Male in der Erklärung der Voting-Regeln. Dabei sind die relativ simpel. Jedes Bundesland hat eine Kennziffer. Nun muss man jeweils die Kennziffer von dem Bundesland, aus dem man anruft, mit dem kombinieren, für das man seine Stimme abgeben will. Beispiel Brandenburg für Brandenburg: Wenn Das Gezeichnete Ich, wie es sich für einen Bond-Schurken gehört, in purere Exzentrik für sich selbst anrufen will, muss es 0707 wählen. Klingt simpel. ist aber für ein Publikum, das seit zehn Jahren von den unzähligen Raabshows sozialisiert wurde, eine nahezu aussichtslose Herkules-Aufgabe. In etwa vergleichbar mit einer Runde "Ich packe meinen Koffer" für einen Kurzzeitamnesie-Patienten.

22:35 Uhr

Je länger sich diese Instrumentenkirmes ohnmächtig nach vorne wälzt, je schneller sie sich Mitternacht nähert, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass Uwe Boll aus PR-Gründen für sein Schmeling-Biopic heute die Regie für diese Pro7-Inszenierung übernommen hat. Ganz abwegig ist das nicht. Uwe Boll hat, gewohnt stilsicher, für alles gesorgt: Billige Kulissen, schlechte Hauptdarsteller und ein visuelles Feuerwerk, das all diese Defizite in Krachwumm-Manier übertünchen soll. Fehlt tatsächlich nur noch Henry Maske, der nuschelnd und mit unfreiwillig komisch wirkender Überbetonung ein Cover des Simon&Garfunkel-Klassikers „The Boxer“ zum Besten gibt. Gemeinsam mit dem Reggaekünstler Gentleman. Weil der Maske an seine eigene Karriere erinnert. Technischer K.O. in der ersten Strophe.

22:25 Uhr

Alle Bundesländer durften singen. Es war eine musikalische Reise durch diese Republik, eine wilde Hatz von Nord nach Süd, Ost nach West, die nicht nur die eingefleischten Fans von Deutschlands schönsten Bahnstrecken atemlos und mit leichtem Schwindel zurück gelassen hat. Wer aber immun gegen Bildschirmflackern ist, weil er vom Fairtrade-Koks der tödlichen Blockflöte genascht hat, für den gibt es das Ganze noch mal im Schnelldurchlauf. Deutschlands Geräuschkulisse in 60 Sekunden. Indianer aus Bremen, Mannheimer Springflut, Ü-40-Rock und natürlich Berliner Teehaus-Pop für Kreuzberger Nächte, wie sie sich Touristen vorstellen, für die Friedrichshain auch tatsächlich noch spritzig ist.

22:18 Uhr

Rote Banner wallen von der Decke und der Mann, der aussieht wie TV-Koch Zacherl nach einer überhastet beendeten Rasur besingt die große Liebe, ihren Verlust, den Bruch des Herzens, den Schmerz des Romantikers. Feuerzeuge werden in die Luft gehalten. Berti Vogts schaltet sich ein: "Ich rieche Gas." Schließlich verhallen die letzten Takte, Graf verbeugt sich, hüllt sich dann in die überdimensionalen Banner und schreitet durch die brennenden Massen wie Nero. Eine Stadt brennt. Aber die Wasserwerfer werden in Stuttgart gebraucht.

22:15 Uhr

Das Ich und Mounir lassen sich von der Hauptstadt feiern. Die Nacht wird lang, nicht nur in Kreuzberg. Die Luft schmeckt nach Chai, nach Yasmin-Tee. Doch bevor die Begeisterung in spontane Autokorsos am Kottbusser Tor umschlägt, gelingt Raab ein harter Schnitt. Es geht nach Nordrhein-Westfalen, wo der Sänger von Unheilig, Bernd Heinrich Graf, mit wenigen Worten dafür sorgt, dass die Verantwortlichen die Vergabe der Kulturhauptstadt Europas ins Ruhrgebiet noch einmal überdenken.

22:10 Uhr

"Berlin, seid ihr noch wach?", schreit Klum, die selbst nie zu schlafen scheint. Natürlich ist Berlin noch wach. Das geilste Bundesland schreit in die Nacht. Adel Tawil heizt die Stimmung weiter an. Vor einer Berlin-Fototapete kündigt er im Fall eines Sieges eine Tour durch die bekanntlich langen Kreuzberger Nächte an. Und weil er tatsächlich keine Lust hat, ganz alleine zu singen, singt er mit dem König von Äpypten, Mohamed Mounir. Es ist ein Song, wie aus dem Setzkasten Neuköllner Integrationsbeauftragter. Deutsch-arabisches Duett auf orientalischen Multikulti-Beats. Wäre Renate Künast in der Halle, sie würde jetzt einen Bauchtanz versuchen.

22:00 Uhr

Gleich aber kommt die Band, die tatsächlich ein Heimspiel in Berlin hat: Ich + Ich. Ein Lokalmatador, der sich bei genauerem Hinsehen als Etikettenschwindel erweist. Denn das Duo Ich + Ich besteht, wie es sich für ein Duo gehört, eigentlich aus Annette Humpe und Adel Tawil. Auf der Bühne aber ist aus Ich + Ich ein Solo popkultureller Schizophrenie geworden. Ich + Ich ist nämlich auch heute wieder nur ein Ich ohne Begleitung. Was nicht nur Sigmund Freud fragwürdig finden dürfte. Grund dafür sind Humpes Midlife-Crisis-Allüren. „Ich habe mich von der Bühne verabschiedet, bevor irgendjemand fragt: Was macht die Alte da auf der Bühne“, sagte sie kürzlich und hat nun das angenehm gedimmte Backstage-Licht als beste Anti-Aging-Maßnahme für sich entdeckt. Und ist so jetzt wie in besten NDW-Zeiten wieder Producerin.

Dazu passt auch ein fiktiver Dialog, der sich so oder auch anders kürzlich in einer Szene-Bar in Berlin-Mitte zwischen zwei jungen Männern bei einem Moscow Mule hätte entspinnen können:

„Schau mal da, das ist doch die Annette Humpe.“

„Wer ist das?“

„Eine von den Humpe-Schwestern.“

„Welche?“

„Na, Annette.“

Danach wenden sich die Männer mit einem Achselzucken wieder der Gegenwart zu. Die Neue Deutsche Welle ist eben auch schon seit 20 Jahren vorbei.

21:55 Uhr

Dafür springt jetzt Bakkushan für Baden-Württemberg durch Berlin, für die Jungs ein echtes Heimspiel, ist doch Prenzlauer Berg die Hauptstadt Süddeutschlands. Bakkushan bezeichnet im übrigen eine Person, die von hinten besser aussieht als von vorne. Auch davon gibt es in Prenzlauer Berg einige. Ob es da einen Kausalzusammenhang gibt?

21:50 Uhr

Die Regie lässt das letzte Aufbäumen deutscher HipHop-Kultur zuckend im Off verenden und fängt stattdessen Bilder aus Sachsen-Anhalt ein. Luther und der Harz. Dann spielen Silly. Noch so eine Band, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Gothic-Rock mit Deutschrocktexten und einer gesunden Portion Reim-dich-oder-ich-fress-dich. Das hört sich an, als hätte Oli P. den Text schreiben müssen, ohne bei Grönemeyer klauen zu dürfen. Viel mehr war da nicht zu erwarten. Keine Flugzeuge, nirgends.

21:40 Uhr

In Berlin kommt nun doch Oktoberfeststimmung auf. Es gibt HipHop mit deutschen Texten aus München. Blumentopf hoffen, dass sie mehr gewinnen, als nur sich selbst. Die Chancen sind nicht schlecht, sind sie doch "die Pioniere des deutschen Rap" (Raab). Doch die Jungs aus München, die einst mit furiosen Wortspielen auf Partysafari waren, haben in den letzten Jahren nur noch durch ihre Fußballbetextungen für das ZDF auf sich aufmerksam gemacht. Was dann zwar Freestyle sein sollte, aber nicht mal Freischwimmer-Niveau hatte. Der Style wurde dabei von Phrasendreschern einfach umgemäht. Jetzt aber versuchen sie ihr Comeback mit Sprechgesang nach den Oldschool-Regeln. Mit dem Track "Solala". Was aber dann auch, trotz Wortspielen und einer Stuttgart-21-Botschaft wie das angegilbte Abziehbild ehemaliger HipHop-Ikonen wirkt. Fünf alte Männer, die ihre eigene Jugend immer wieder und wieder aufführen, bis sie sich selbst überlebt haben. Aber vielleicht gilt für die Großväter am Mic auch nur die alte Fünf-Sterne-Deluxe-Weisheit: HipHop braucht kein Mensch, aber Mensch braucht HipHop.

21:37 Uhr

Nun Thüringen: heiter bis wolkig, dafür aber mit Normann Sinn und Ryo mit "Planlos". Womit dann auch alles gesagt ist.

21:34 Uhr

Zwischen Hessen und Thüringen zwängt Raab noch eben das Saarland. Das geht, weil das Saarland, dieses deutsche Auenland, so klein ist und dann auch noch mit den Microboys am Start ist, die ebenfalls die Größe einer Hobbit-Kapelle haben. Die Musik ist dafür umso größer. Der Applaus auch. Die Microboys wachsen über sich hinaus, fallen dann aber auch der allgemeinen Hatz zum Opfer, in der die Bundesländer zu einem merkwürdig grauen Klumpen verschmelzen, ganz so, als hätte Kachelmann seinen Gefängnisfrust an einer Wetterkarte abgearbeitet.

21:28 Uhr

Oceana und Leon zaubern ein Duett auf die Bühne, wie früher nur Max Herre und Joy Denalane, mit so viel Anmut und gegenseitiger Begierde wie Siegfried und Roy. Stefan Raab beobachtet den Balztanz als lächelnder Ornithologe. Denn für ihn ist es auch der Auftritt zweier potenzieller Klienten, hat er doch Leon schon bei Unser Star für Oslo gecastet. Und am Montag dann kann er Oceana zu sich aufs TV-Total-Gleitsofa einladen, um zwischen manischem Knöpfedrücken und Stand Up wie aus der Alzheimer-Selbsthilfegruppe ihr Album zu bewerben. So läuft das im Raab-Universum, in dem er alle Fäden in der Hand hat und so viele Shows besitzt, dass er in der einen Star kreieren kann, um sie in der anderen auftreten zu lassen. Und am Ende der Verwertungskette wartet immer wieder das weit aufgerissene Maul mit den Keramikzähnen.

21:25 Uhr

Für Hessen treten Oceana und Leon an. Mit Musik für die Seele, Soulfood gegen den Alltagsstress. Und wenn sie gewinnen, nennt Leon seinen Sohn Hessen, sagt Leon. Eine Taktik, die Andrea Ypsilanti vielleicht die Ministerpräsidentschaft gerettet hätte.

21:22 Uhr

Die ProSieben Bigband sorgt für etwas Abwechslung. Und Johanna Klum schickt einen Augenaufschlag nach Hessen. Raab schwiegt derweil, hat schon vor ein paar Minuten die Rolle des Souffleurs übernommen. Erfolg ist, wenn man selbst nicht mehr sprechen muss und trotzdem sehr viel zu sagen hat.

21:15

Für Schleswig-Holstein segeln Stanfour über die Bühne, meersalziger Seier-Rock für jene Menschen, die sich das Leben an der See wie eine Beck's-Werbung vorstellen und den Sonnenuntergang nur durch eine Flasche Grapefruitbier verfolgen. Musik wie Ferien auf Saltkrokan. Und das Publikum zappelt im Schleppnetz der Töne.

21:10 Uhr

Nach diesem Besuch im American Diner wird jetzt Gourmet-Küche aus dem Umland angeboten. Musik wie Beelitzer Spargel. Für Brandenburg darf Das Gezeichnete Ich, ein unbekannter Bankangestellter, der mit seinem Anzug an die grauen Herren erinnert und einen Lederhandschuh trägt, als wäre in seiner Freizeit James-Bond-Bösewicht, die Schmeling-Halle in Melancholie tauchen. Matthias Platzeck würde jetzt vor Rührung weinen, wenn nicht die Gefahr bestehen würde, dass diese Tränen die Talsperren zum Überlaufen bringen würden. Deshalb schmeißen Klum und Raab ihre Zwischenmoderationen wie undichte Sandsäcke auf die Bühne. Das Gezeichnete Ich gleitet hinter den Vorhang, hat Sand in den Augen, geht schlafen. Und die Hatz durch die Republik geht weiter.

21:05 Uhr

Bevor Elvis sich noch einmal an sich selbst verschluckt und die beiden Niedersachsen vom Tamburinmann von der Bühne geschellt werden, verlassen sie die Bühne, um sich im Backstage-Bereich mit Elton noch einmal die Tanzszene aus Pulp Fiction anzuschauen, fürs nächste Mal.

21:00 Uhr

Wobei dann zu hoffen bleibt, dass zwanzig Lichtjahre von hier entfernt nicht noch jemand auf die Idee kommt, Tonfall und Reimschemata von Xavier Naidoo zu übernehmen, um angestrengt wie unter Pressatmung von der Liebe zu singen. Im letzten Jahr hat Mecklenburg immerhin noch Marteria ins Rennen geschickt. Und davor Deichkind. Künstler, die ihre Sprache nicht in Doppler-Strukturen zwängen. Und Reime nicht ausschließlich dazu nutzen, um von Gott und Frauen zu singen. Deshalb gilt für den Ticker: Zum Glück in die Zukunft. Nächster akustischer Endboss: Dirk Darmstädter aus Niedersachsen, der gemeinsam mit Bernd Begemann für Niedersachsen die 50er wieder aufleben lässt. Mit einem Freddy-Quinn-Cover. Inklusive Protestgesangs-Mundharmonika und Tolle. Ein schlimmes Potpourri der Musikgeschichte.

20:55 Uhr

Nun das Bundesland, durch das man als Berliner immer durch muss, wenn man ans Meer will. Sebastian Hämer für Mecklenburg Vorpommern. Was auch zeigt: Wenn dieses Bundesland gute Musiker hervorbringen kann, ist auch Leben auf Gliese 581g möglich.

20:50 Uhr

Als Indieboys, die sich ihr Hipstar-Image mit Doherty-Blut auf den Körper gemalt haben, erzählen die Kleinstadthelden eine Kleinstadtgeschichte mit seltsam verschrobener Indianer-Metaphorik. dann doch lieber Bad Segeberg. Und Pierre Brice an der Blockflöte des Todes. Mutter, der Mann mit dem Skalp ist da.

20:45 Uhr

Drei Bundesländer durften schon singen. Bisher ist noch kein Song so richtig hängen geblieben, sondern eher wie zu kleine Obstfliegen durch ein nicht ganz engmaschiges Spinnennetz geschlüpft. Ohrwürmer konnten so nicht schlüpfen. Vielleicht ist aber der nächste Beitrag ein Fall für den Kammerjäger. Die Kleinstadthelden aus Bremen aber rocken so übermütig durch die Hansestadt, dass man sich unwillkürlich fragen muss, wie klein eine Stadt sein muss, um solche Helden hervorzubringen. Dann lieber eine Band aus Hahn, Hund, Kater und Esel, die nachts vor dem offenen Fenster kreischt.

20:40 Uhr

Alles wird teurer. Auch Sendezeit. So scheint es. Blockflöte ab. Stattdessen stelzen Nasenflöte Klum und Deutschlands Vorzeige-Ukulele über eine futuristische Drahtkonstruktion und versuchen, die Ode an das weiße Rauschen mit halbgaren Prodomo-Witzen zu kaschieren. Das aber gelingt insbesondere der Klum nicht so ganz, die in ihrem Abiballkleid lediglich so wirkt, als würde sie jeden Moment aus den Highheels schlappen, weil sie vor Beginn der Veranstaltung noch schnell mit den coolen Jungs (Blumentopf) hinter der Halle ihren ersten Joint geraucht hat. Deshalb jetzt auch Werbung. Geht es nach der Johanna, am besten für Schokolade.

20:35 Uhr

Es sind noch nicht einmal zwanzig Minuten vergangen und auch die Rheinland-Pfälzer, die sich bei geschlossenen Augen anhören wie die Ärzte, bei klarem Blick aber aussehen wie die Studentenband vom letzten Sommerfest der FU in Dahlem, müssen die Bühne räumen. Dafür gibt es jetzt allerlei aus Leipzig, unter anderem auch den Kandidaten für Sachsen: Die Blockflöte des Todes, die sich auf Lagerfeuergitarrenriffs über die Preisinflation beim Kokskauf beschwert. Die erste tatsächliche Berlin-Hymne an diesem Abend. In Mitte gehen die Feuerzeuge an und die Nasenscheidewände beben.

20:30 Uhr

Stefan Raab hetzt durch den Auftakt der Sendung, als wäre diese Livesendung ein MTV-Zusammenschnitt des letzten Rock am Ring. Die Kamera rauscht nach Rheinland-Pfalz. "Das Schönste hier ist das Rheinland und die Pfalz", flötet der Frontmann von Auletta in die ihm zur Verfügung gestellte Sprechzeit, will dann noch Wein aus eigenem Anbau an den Mann bringen. Muss stattdessen aber singen. Und die Klum füllt die noch offene Lücke zwischen Wein und Gesang.

20:28 Uhr

Berlin schwimmt auf der Ewigkeitssonate der Norddeutschen, die auf der Bühne kauern wie eine zuckende Reminiszenz an Pete Doherty (mit Hut) oder REM auf Kopfsalatentzug. Drei musikalische Veganer, die von ihren eigenen Gitarrenriffs von der Bühne gepustet werden. Selig ist, wer's trotzdem mag.

20:25 Uhr

Elton verlässt den Bildausschnitt durch die Falltür des ihm angeborenen Wortwitzes. Die Kamera fliegt nach Schleswig-Holstein, wo laut Ministerpräsident Harry Carstensen "Popschtahrß" gemacht werden. Wer da aber genau gemacht wurde, weiß Carstensen auch nicht so genau und deshalb fährt der strenge Daumen der Regie die Deutschlandkarte ein paar Zentimeter nach unten und landet bei Selig in Hamburg, den ersten Künstlern an diesem Abend, die laut Raab den Grunge in Deutschland erfunden haben. Sollte das stimmen, ist nun auch geklärt, warum sich Cobain wirklich in den Kopf geschossen hat.

20:20 Uhr

Jetzt darf auch Elton auftreten, der im Scheinwerferlicht glänzt, als hätte man ihn mit Schweinefett eingerieben. Er ist heute der Mann im Backstage-Bereich, in dem aber bisher noch so viel los ist wie auf einer Wahlparty der Linken in Hohenschönhausen.

20:15 Uhr

Dann aber schwenkt die Kamera nach Berlin. Stefan Raab schreitet unter tosendem Applaus auf einem Fahnenmeer surfend in die Berliner Mehrzweckhalle. Das Publikum johlt, erst bei jedem Schritt, dann bei jedem Bandnamen, den Raab von seinen Karteikarten abliest. Jubelt über den Jubel, schaukelt sich hoch. Raab lacht ein gleißendes Lachen und ruft dann seine Co-Moderatorin Johanna Klum in den Saal, die hinter der Bühne in ein gigantisches Megaphon gejohlt haben muss, weil das Publikum plötzlich still ist. Jubel vom Band, Lachen aus dem Off. Und so hat Raab ganz nebenbei auch die 90er-Jahre-Sitcom wieder belebt.

20:10 Uhr

Noch testen die ProSieben-Mitarbeiter die Belastbarkeit von Schnitzeln in Weltraumsimulatoren und versuchen sich selbst mit Mentos-und-Cola-Mixturen in die Umlaufbahn von Gliese 581g zu katapultieren, oder was man eben sonst so macht, wenn einem vor etwa sieben Jahren die Ideen für eine Wissenssendung ausgegangen sind. Dann wird noch schnell zu Peter Maffay geschaltet. Der singende Leberfleck erscheint als eine Art FSK-Warnung: "Diese Sendung ist für Musiker über diesem Niveau nicht geeignet."

20:00 Uhr

Berlin hat sich rausgeputzt. Der Herbst liegt klar über dem Prenzlauer Berg. Die Max-Schmeling-Halle klebt wie ein Ufo in der Ebene am Mauerpark. Wo sich sonst die Szene in bunten Sonnebrillen Hunden beim Frisbeespielen zusieht und ihren Alltag in grünen Falschen ertrinkt, plärrt heute das Deutsche Showbiz durch die Nacht. Stefan Raab und sein Spielmannszug machen Station in Berlin, die Bundesländer stellen sich einem dreieinhalbstündigen Wettschreien und am Ende taumelt der Sieger im salamigroßen Konfetti des Privatfernsehens. Es ist ein wunderbar zeitgenössisches Stück, das der Orchestrator aus Köln, der Mann mit dem Keramik-Gebiss hier aufführt. Ein bisschen Castingshow, ein bisschen Musical, aber immer auch ein Schnelldurchlauf durch das Wesen der deutschen Populärmusik. Und weil sich Peter Fox letztes Jahr erfolgreich zum Affen gemacht hat, darf Berlin die Bühne bieten für dieses Spektakel. Aber immerhin gibt es kein Public Viewing am 17. Juni. Das ist schon mal was. Man muss eben auch mit den kleinen Dingen zufrieden sein. Deshalb wählen manche Leute ja auch Gregor Gysi.

19:50 Uhr

Willkommen zum Tagesspiegel-Ticker live vom Bundesvision Song Contest aus der Max-Schmeling Halle in Berlin. Zwei Tage bevor sich der 3. Oktober 1990 zum zwanzigsten Mal jährt, feiert der gesamtdeutsche Entertainment-Kanzler Stefan Raab die Wiedervereinigung auf die ihm ganz eigene Weise und lässt die Bundesländer, egal ob alt oder neu, im musikalischen Schauringen gegeneinander antreten. In der Mehrzweckhalle am Mauerpark, sonst nur noch als Fuchsbau genutzt, zelebriert Raab seinen Musikantenstadel 2.0, ein lautes, knallig buntes und, wie ARD-Intendanten sagen würden, „poppiges“ Allerlei.

Mit chartkompatiblen The-Dome-Größen wie Unheilig oder Ich + Ich, hoffnungsvollen Newcomern wie Kleinstadthelden oder Silly, denen Raab hier in Berlin eine Plattform bietet, um sie danach in chartkompatible The-Dome-Kandidaten zu verwandeln oder den längst vergessenen HipHop-Größen Blumentopf, die heute endlich mal wieder mehr machen dürfen, als mit einfallslosen paargereimten Hooklines für die Öffentlichrechtlichen über Fußballspiele zu rappen. Zu erwarten ist also eine mehrstimmige und mehrstündige Klangcollage mit tödlichen Blockflöten und Moderationen wie schlecht gestimmte Gitarren.

Der Ticker sitzt bereits mit Ukulele und Henry Maske im Keller der Max-Schmeling Halle und schnitzt sich mit einer goldenen Stimmgabel Ohrstöpsel aus alten ALBA-Maskottchen. Es kann also losgehen. Und das wird es. Gleich.

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