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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: In der Mokkatasse lesen

Vierblättrige Kleeblätter, Schornsteinfeger und Glücksschweine: Für Hatice Akyün sind diese Dinge minimaler Aberglaube, um den sie die Deutschen manchmal beneidet. Sie sieht in jeder Mokkatasse ein potentielles Horoskop.

Meine Freunde schätzen an mir, dass ich pragmatisch bin, vernunftorientiert handle und meistens logisch denke. Diese Eigenschaften scheinen sich mit meinem Grenzübertritt in die Türkei in Luft aufzulösen. Es dauert keine 24 Stunden, bis sich mein Verstand vollkommen abmeldet.

Tante Fatma sei die beste Wahrsagerin nördlich des Bosporus, sagte meine Schwester. Sie werde mir heute Nachmittag mein Schicksal voraussagen. Der Aberglaube beherrscht ab nun meinen Alltag. Ich reagiere total irrational, wenn es um mein ganz persönliches Kismet geht. Mal beschützt es mich, ein anderes Mal beschert es mir einen reichen Ehemann oder unvorstellbare berufliche Erfolge. Und nach Tante Fatma wird mir diesmal alles bis Ende des Jahres widerfahren.

Wie beneide ich meine deutschen Freunde um ihren minimalen Aberglauben, der so wunderbar sortiert ist. Vierblättrige Kleeblätter, Schornsteinfeger und Schweine bringen Glück, schwarze Katzen Pech. Die Liste der kleinen Abergläubeleien im deutschen Alltag ist mit Daumendrücken recht überschaubar. Am Freitag dem 13. werden hierzulande sogar Ehen geschlossen. Der Fügung die Stirn bieten, nennt das Herbert Grönemeyer.

Ich erkenne mich ja selbst nicht wieder, wenn ich aus der Türkei nach Berlin zurückkehre und schlaflose Nächte verbringe, weil mir Prognosen aus meiner Mokkatasse gelesen wurden. Ich frage mich, was das eigentlich über meine Und-Identität aussagt? Ich denke und handle deutsch, aber sobald ich eine leer getrunkene Mokkatasse sehe, kann ich sie nicht schnell genug umdrehen und verfalle hoffnungslos ins Türkische.

Wenn mir eine rumänische Frau auf der Wilmersdorfer Straße aus der Hand lesen möchte, nehme ich auch dieses Angebot gerne an. Und mit dem täglichen Horoskop beginnt mein Tag. Wobei das schon wieder gelebter Pragmatismus ist, denn richtig schaden kann es nicht. So ganz ohne Hokuspokus lebt der Deutsche glücklicherweise auch nicht. Meine alte Nachbarin erzählte mir, dass sie im Krieg in den Bombennächten oft im Keller zusammensaßen, sich an den Händen berührten und im okkultistischen Stuhlkreis nach den Männern an der Front fragten. Und bei jedem neuen Mann in ihrem Leben lässt sich meine Freundin die Karten legen.

Das Christentum lehnt den Blick in die Zukunft genau wie der Islam strikt ab. Deshalb muss wohl auch der Fernsehpfarrer mit seiner spirituell in Flaschen abgefüllten Essenz bald die Fliege machen. Spätestens hier hakt dann auch wieder mein Verstand ein. Ein wenig im Nebel des Ungewissen zu stochern mag ja in Ordnung sein, aber mit den Wünschen der Menschen Geld abzuschöpfen hilft nicht den Suchenden, sondern denen, die genug Verzweifelte gefunden haben.

Die Wahrheit liegt bei mir darin, dass mit dem Aberglauben meine kleinen und großen Probleme mit Hoffnung weichgezeichnet werden. Und wenn es ein paar Mal im Jahr die Mokkatassenleserei nicht gäbe, hätte ich wohl längst einen Therapeuten. Vorhersagen werden nur selten wahr, aber sie entfalten eine Wirkung. Sie können so interpretiert werden, dass sie der Realität etwas Bodenhaftung und dem Schicksal eine Chance geben. Oder wie mein Vater sagen würde: Fala inanma falsiz kalma – glaube nicht an Vorhersagen, aber verzichte auch nicht auf sie.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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