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Medien: Es roch nach Glut und Asche

Unser Autor schreibt ein historisches Buch. Er ist tief hinabgestiegen in die Papierarchive. Und hat festgestellt: Die Digitalisierung der Geschichte raubt ihr eine wichtige Dimension.

Ich schreibe gerade an einem Buch über einen berühmten Mann und seine Familie. Ich habe Interviews geführt, im Netz recherchiert, Akten gewälzt, Korrespondenzen gesichtet, bin in manches Archiv hinabgestiegen. Geschrieben habe ich noch kaum eine Zeile, aber das Buch steht schon fett wie ein Ziegelstein bei Amazon im Schaufenster und kann vorbestellt werden. Das Netz eilt weit voraus.

Das Phänomen der digitalen Raserei ist in den Archiven wohlbekannt. Kürzlich war ich in Bonn, um die Köpfe und Herzen meiner Helden zu begehen. Es war alles ziemlich entschleunigt. Auf dem Rhein glitten die Frachtschiffe gemächlich dahin, die Straßenbahn kam nur mühsam voran. Mir steckte noch der überhebliche Auftritt des ICE in den Knochen, ich klappte mein blitzschnell-arrogantes Laptop auf und träumte für einen Moment, gleich werde sich das Material wie von Zauberhand auf meinem Bildschirm materialisieren. Doch dann musste ich erst einmal Anträge stellen, mich in ein Besucher-Buch eintragen und Nutzungshinweise zur Kenntnis nehmen. Papier, Papier, ich leistete etwa zweihundert Unterschriften. Dann wanderten die Anträge im Haus herum, lösten Bestellvorgänge und Handgriffe aus, Aktenwagen rumpelten durch kühle Kellergewölbe, Staub wirbelte auf, Aufzüge stiegen aus der Tiefe ans Licht und endlich erreichte mich die Korrespondenz des berühmten Mannes. Das Bestellen von Kopien erforderte das Ausfüllen neuer Scheine und als ich fragte, wie lange denn die Anfertigung und Zusendung der Kopien etwa dauere, fiel ich in Ohnmacht.

Ich erwachte in den Armen eines groß gewachsenen Mannes, der sich als einer der leitenden Archivare vorstellte. Er wirkte unbedingt beruhigend, er hatte die Aura eines gesättigten Bären. Dann gab es ein gutes Gespräch. Wir zeigten einander unsere Ziegelsteine auf der Brust. Ich berichtete ihm von meinen Zeitnöten, er erzählte mir, wie die digitale Revolution seinen Job verändert. Immer häufiger haben er und seine Mitarbeiter es mit getriebenen Typen wie mir zu tun, die gar nicht merken, dass sie ihren eigenen Erwartungshorizont digitalisiert haben. Man fährt ins Archiv, weiß, dass man Papier in die Hand bekommt, mitunter noch nicht aufgearbeitet, glaubt aber, man könne es erfassen wie eine Riesenkrake, die mit tausend Armen fischt. Immer häufiger, so der Archivar, habe er es mit Menschen zu tun, auch mit Historikern, die nicht nur glauben, hier sei bereits alles oder doch das meiste digitalisiert, sondern auch schon komprimiert und sortiert.

Ja, natürlich digitalisiere man einiges, Zeitungen, Akten, Protokolle und Parteitagsreden. Aber das sei ein verschwindend geringer Teil des Gesamtbestandes, und diese Digitalisierung kann mit der Digitalisierung des Bewusstseins nicht mithalten, zumal es an Mitteln fehlt. Etats werden gekürzt, Stellen nicht neu besetzt. Dass die Digitalisierung und Bereitstellung der Dokumente aber erst mal sehr viel mehr Zeit kostet und auf lange Sicht nicht helfe, Zeit zu sparen, komme in der Öffentlichkeit kaum an. Man erwarte digitalen Schwung, wolle die Handarbeit dahinter aber nicht sehen. Und gleichzeitig müsse man jetzt Systeme entwickeln, wie man unübersehbare Fluten von Mails, Tweets und Webseiten archiviere. Denn die digitale Kommunikation bringt es mit sich, dass das, was eben noch Gegenwart war, im nächsten Augenblick schon Archivgut ist. So wachse das Gestern schon im Heute rasend, aber auch das, was war, das Gestern, fresse sich immer gieriger ins Heute und Morgen, denn im Netz vernetzen sich Vergangenheiten und bilden Gegenwarten. Ein Netzwerk wie „Stay Friends“ lebt ja gerade von dem Wunsch, Vergangenheiten zu retten und sie mit dem Heute zu verbinden. Die digitale Umwälzung schafft also verschiedene Geschwindigkeiten: Während bestimmte Bestände blitzschnell zugänglich sind, bleiben andere dem analogen Zeitalter verhaftet und sind eher schwer zu erreichen. Hier lauert die Gefahr, dass das Starsystem, das Hollywood dirigiert und auch alle anderen Medienbereiche erobert hat, auch die Archive erfasst und ihre Bestände unterwirft: Prominenz schafft Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit schöpft Geld.

Und wie, frage ich mich mit Blick auf die Briefe des Mannes, kann die Digitalisierung der Objekte Begriffe wie Aura, Atmosphäre und Dinglichkeit übersetzen? Der berühmte Mann schrieb seiner Frau Hunderte von Briefen, vor allem in den Nachkriegsjahren. Billiges, fleckiges, zerknittertes Papier, herzensreiche Briefe, geschrieben bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Im Lauf der Jahrzehnte

jedoch wird der Mann machtvoller und das Papier, auf dem er schreibt, wird kühler, die Titel imposanter, die Worte knapper. Lässt sich diese sinnliche Ebene, dieses haptische Spüren, auch übersetzen? Dass die Digitalisierung auch ihre Opfer fordert, erlebte ich selbst leidvoll. Ich nutze mein I-Phone, das ein gutes Aufnahmegerät besitzt, gelegentlich, um Interviews zu führen. Dann bot mir die schwarze Flunder hinterlistig eine Softwareaktualisierung an, die ich brav ausführte. Bei dieser Aktualisierung verschwanden einige wertvolle Gespräche, die ich noch nicht transkribiert hatte. Ein anderes Beispiel: Auf der Suche nach Fotomaterial fragte ich bei der dpa in Frankfurt an. Ja, ich könne zwar von zu Hause aus nahezu tausende Fotos meiner Helden finden, voll digitalisiert und wunderbar erfasst, aber viele weitere, vielfach unveröffentlichte Fotos lägen nur als Papier vor und ob die jemals digitalisiert würden? Als ich dann in Frankfurt tausende Fotos in die Hand nahm, fand ich auf vielen Rückseiten ausufernde Bildlegenden. Journalisten machten sich in den sechziger und siebziger Jahren noch die Mühe, das Foto ausführlich zu erläutern, eine kleine Geschichte oder Anekdote dazu zu erzählen. Wenn diese Fotos eines Tages digitalisiert würden, sagte eine Mitarbeiterin, würde der Rückseitentext nicht aufgenommen werden, es fehle an Zeit und Geld. Damit verschwindet eine Gedächtnisebene.

Ich habe bei den Recherchen den Eindruck gewonnen, dass gleichermaßen der soziale und der historische Sinn durch die digitale Revolution verändert werden. Man muss sich Vergangenheiten in der Auseinandersetzung mit dem Material erstreiten, erkämpfen, man muss eine Scheide ziehen zwischen dem, was man wegwirft oder sammelt (als Archivar), und dem, was man verwirft oder auswählt (als Forscher). Die Gefahr einer digitalen Nivellierung der Bedeutungsniveaus ist kaum von der Hand zu weisen. Die Digitalisierung verleitet zu einem horizontalen Sichtungsflug über die Bestände, was nicht digital erfasst ist, läuft Gefahr, an den Rand gedrängt und vergessen zu werden.

Der soziale Sinn hingegen schwindet da, wo der digitale Euphoriker seine Mitmenschen unter den Prämissen des Netzes betrachtet und sie verdinglicht. Ist er oder sie verfügbar? Hat er sich mal aktualisiert? Wo stehst du in meinem Ranking? Dich klicke ich weg! Du baust dich einfach zu langsam auf! Ich kann dich nicht downloaden! An diesem Punkt sind soziales, historisches und digitales Gedächtnis miteinander verwoben. Der historisch-soziale Sinn wird durch die digitale Umwälzung aber selbstverständlich bereichert. Die Welt ist nicht mehr wie für frühere Historikergenerationen nur Text und Papier, sie ist auch Bild und Ton. Die Simultanität der medialen Kontexte, in denen heute jemand agiert, sind durch die digitale Recherche erst komplex nachzuvollziehen. Mein Held besaß noch kein Handy, aber eine Zigarette hatte er fast immer in der Hand. Er konnte wunderbar schweigen, ein Charismatiker. Eine seiner Nachfolgerinnen im Amt, Frau Merkel, besitzt einen voll digitalisierten Daumen und ich frage mich, wer ihre short messages archiviert und nach welchen Gesichtspunkten? Wo beginnt das Private, wo geht es um die Partei, die Regierung, wo geht es um zu vernachlässigende Mikropolitik? Gibt es Grafologen der digitalen Handschrift? Hat Frau Merkel noch eine Handschrift?

Nutzt sie WhatsApp? Ich nahm einen der Briefe des Mannes in die Hand, er roch nach Asche und Glut.

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