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Zu PAPIER gebracht: Schwer erziehbar

Die analoge Reaktion hat zurückgeschlagen. Hier sitzen wir, die Euphoriker und Apokalyptiker des Internets, im Heim für schwer erziehbare und verhaltensauffällige Digitale.

Die analoge Reaktion hat zurückgeschlagen. Hier sitzen wir, die Euphoriker und Apokalyptiker des Internets, im Heim für schwer erziehbare und verhaltensauffällige Digitale. Wir sind schon ein buntes Völkchen. Da wäre Guido Knopp zu nennen. Sie haben ihn eingewiesen, weil er ganz neue Erkenntnisse über Hitler und seine Helfer gewonnen hat. „Hitlers Nerds“ und „Hitlers iPod“ waren fast fertig, da haben sie ihn geholt. Oder sehen sie hier, der Mann mit der Schaumwolke vor dem Mund, das ist Manfred Spitzer, ein Hirnforscher. Er wurde verhaftet, nachdem er aus mehreren Grundschulen und Gymnasien 425 Laptops gestohlen hatte. Er murmelt fortwährend „Digitale Demenz, digitale Demenz“ und warnt vor der Aufweichung unserer Gehirne durch Computer. Der Typ da hinter dem Ficus benjaminus heißt übrigens Johannes Ponader. Ja, genau, das ist der Piratenpolitiker, der in keiner Talkshow die Finger vom Handy lassen konnte. Warum seine Finger so raubvogelhaft kreisen, warum er so ins Leere tippt? Sie haben ihm sein Smartphone weggenommen. Das sind nur die Entzugserscheinungen, hat man uns beruhigt. Und auch ein Christdemokrat darf nicht fehlen, er heißt Altmaier, Peter und ist Bundesumweltminister. Er wurde aufgegriffen als er durch den Tiergarten lief und grölte: „Ich Twitter, du Jane!“

Und ich? Zwanghafte Idolatrie heißt mein Vergehen. Ich bete das Netz an. Ich hab’ keine Angst vor dem großen Bruder, lache über Drohnen, die mein Gesicht erkennen, lache über Identitätsdiebstahl und den ganzen übrigen Angstquark. Wir Deutschen sind schon ein ganz besonderes Sorgenfaltenvölkchen. Doch das Netz dankt es mir nicht. Wenn ich mal eine wirklich wichtige Frage in die Google-Runde werfe wie „Schmeckte der 21. September 1958 nach Lakritz?“ oder „Existiert Angela Merkel wirklich?“, weiß es keine Antwort. So schwanke ich zwischen Ekstase und Melancholie. Der Oberarzt, heimlich auf unserer Seite, flüstert mir zu: „Die Frage ist nicht, ob das Netz uns, sondern ob wir das Netz retten können!“ – „Ist es denn in so großer Gefahr?“, frage ich zurück. Bevor er mir antworten kann, packen ihn zwei Gorillas in Weiß und führen ihn ab. Da soll man nicht verrückt werden? Und da schleppen sie schon wieder einen herbei: Boris Becker?! Jetzt ist er drin!

Der Autor ist Schriftsteller und freier Journalist.

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