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8. Mai 1945: Ein Ende, das ein Anfang war

Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Aber wer ihn in Dur transponiert und seine Molltöne überhört, macht es sich zu leicht.

Tiefer als dieser Tag hat wohl kein Ereignis gewirkt – im Erleben derer, die Zeuge dieses Moments waren, wie in seinen historischen Konsequenzen. Er trägt das Zeichen historischer Zäsuren: Wer ihn erlebt hat, weiß auf immer, wo und wie ihn die Nachricht erreicht hat. Jeder in der Generation unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern konnte erzählen, hat erzählt, wo er den ersten Russen oder Amerikaner sah, um welche Ecke er kam, wo er gefangengenommen wurde oder nach Hause kam.

Allenfalls kann der 9. November 1989 da mithalten, in dem man so etwas wie ein Gegendatum zu ihm sehen kann. Doch in Wahrheit ist der 8. Mai 1945 unvergleichlich: Kein anderer Tag hat so viele Menschen in unterschiedlicher Weise in den Sog seines Geschehens und seiner Folgen gezogen. Keiner hat die Zeit so radikal in ein Vorher und ein Nachher geteilt. Und keiner bedrängt uns mit solcher Ambivalenz, mit solcher Doppelgesichtigkeit. Dieser Tag ist wirklich Ende und Anfang, mehr noch: ein Ende, das ein Anfang war.

Denn es trifft ja auch zu, dass das Wiedererstehen von Staat und Gesellschaft in Deutschland mit diesem Tag und seinen Folgen zusammenhängt. Man versteht die Geschichte Nachkriegsdeutschlands nur halb, wenn man sich nicht bewusst macht, dass sie von ihm herkommt. Das gilt im Allgemeinen, in Berlin aber auch im Besonderen. Denn ein wichtiger Strang dieser Entwicklung ist hier gleichsam ortsfest zu machen. An dem 2. Mai, an dem Berlin kapituliert, beginnt auch die Gruppe Ulbricht ihre Arbeit. Und auch wenn man in Rechnung stellt, dass die Aufteilung Deutschlands ein Beschluss der Konferenz von Jalta im Februar 1945 ist, so ist doch offenbar, dass an diesem 2.Mai auch jene Entwicklung beginnt, die zur Teilung Berlins und Deutschlands führt.

Was also ist dieser 8. Mai 1945? Wie kann man ihn verstehen? Wie mit ihm umgehen? Er ist noch immer die wichtigste Probe für unsere Fähigkeit und unsere Bereitschaft, sich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen, sie anzunehmen. Sehen wir ihn als Katastrophe oder Wende? Als Deutschlands dunkelste Stunde oder als notwendige Katharsis? Verträgt sich die Fassungslosigkeit, die jeden angesichts der Ereignisse anfällt, die mit diesem Tag verbunden sind, mit der Genugtuung, ja, dem Stolz über das Staatswesen, das es so ohne ihn nicht gäbe? Und wie steht es mit den anderen Folgen, die auch von ihm ausgehen – mit der deutschen Teilung, der DDR, dem Verlust des deutschen Ostens und der Einbeziehung Ostmitteleuropas in den Ostblock? Dürfen sich auch die Deutschen ihrer Leiden und Verluste erinnern, obwohl sie es waren, die das gewaltigste Attentat auf die Zivilisation seit Menschengedenken verübten und Europa fast zerstört hätten?

Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede am 8. Mai 1985 „anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs“ – so war sie überschrieben – diesen Tag einen „Tag der Befreiung“ genannt. Diese Botschaft der Rede richtete sich, gewiss doch, gegen die Tendenz, in Trotz und Trauer zu verharren, und viele, vor allem Ältere, durchfuhr damals angesichts dieser ungewohnten Bewertung ein gelinder Schrecken. Aber Weizsäcker verkündete sie nicht per Dekret, schon gar nicht unter pathetischem Trommelwirbel, sondern verstand sie als Resultat eines Prozesses wachsender Einsicht und Erfahrung. „Von Tag zu Tag wurde klarer“, so Weizsäcker, „was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“ Diesen Tag so zu begreifen, bedeutet, ein neues Kapitel im Verhältnis zu unserer Vergangenheit aufzuschlagen, heißt Arbeit an unserer Vergangenheit, heißt Vergangenheitsbewältigung.

Und deshalb machte der 8. Mai 1945 nicht nur Geschichte, sondern hat selbst eine Geschichte, und die Spur davon zieht sich durch die ganze Nachkriegszeit. Zu ihr gehört, dass das Datum in der Bundesrepublik lange Zeit keine Rolle gespielt hat, während der 8. Mai in der DDR bereits 1950 auf Beschluss der Volkskammer als „Tag der Befreiung“ zum offiziellen staatlichen Feiertag wurde. Dabei ist er in der Geschichte der Bundesrepublik politisch bedeutungsvoll markiert. Denn der 8. Mai ist der Tag, an dem 1949 das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat beschlossen wird. Das Grundgesetz also als Kontrapunkt, als Konsequenz der Kapitulation? Es ist sehr die Frage, ob die Gründungsväter der Bundesrepublik so weit gedacht haben. Vermutlich kam also Theodor Heuss ihrem Empfinden näher, als er in derselben Sitzung das Wort prägte: Dieser Tag bleibe „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie unserer Geschichte für jeden von uns“, „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“. Prägnanter hat es bis jetzt keiner ausgedrückt.

Doch in den frühen Jahren der Bundesrepublik ist das Verhältnis zur Vergangenheit vor allem defensiv, zentriert auf die Lage der Deutschen, geprägt von einer Mischung von Abwehr der eigenen Schuld und dem Lecken eigener Wunden. Erst mit den 60er Jahren taucht der 8. Mai am politisch-historischen Horizont der Bundesrepublik als Anlass des Gedenkens auf. 1970 hält Gustav Heinemann als erster Bundespräsident eine Rede zu diesem Tage, und im Bundestag findet eine Sondersitzung statt, bei der Bundeskanzler Willy Brandt und Vertreter der Fraktionen sprechen.

Aber wer damals spricht, ist noch weit entfernt, in diesem Tag einen Tag der Befreiung zu sehen. Es ist Walter Scheel, der fünf Jahre später, 1975, zum 30. Jahrestag des 8. Mai 1945, als Bundespräsident die Bedeutung des Tages in seiner ganzen Spannweite zur Sprache bringt. Er führt den Gedanken ein, in ihm eine Befreiung zu sehen: „Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als dann das Ende kam.“ Aber er hält auch fest: „Aber am 8. Mai fiel nicht nur die Hitler-Diktatur, es fiel auch das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich war kein Werk Hitlers, es war der Staat der Deutschen … Es war für Generationen von Deutschen das Vaterland, das wir liebten, wie jeder Mensch auf der Welt sein Vaterland liebt.“

Mit der Rede von Richard von Weizsäcker 1985 rückt der 8. Mai ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, ja, man kann sagen: unserer Sicht der Nachkriegsgeschichte. Das hat seinen Grund darin – versteht sich –, dass sie eine große Rede ist: klar und menschlich, Geschichtserzählung und Standortbestimmung, Trauerarbeit und moralischer Appell in einem. Doch ihre Wirkung hat auch mit dem Zeitpunkt zu tun. In gewissem Sinne wirkte die Rede wie eine Summe der langen, oft quälenden Anläufe der Bundesrepublik, mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen. Und reinigend, als Anstrengung der Läuterung und insofern selbst als Akt der Befreiung, wurde sie von vielen empfunden.

Aber trifft es denn zu, dass – wie viele glauben – mit dem Bekenntniswort vom „Tag der Befreiung“ die Knoten der deutschen Geschichte gleichsam wie mit einem Schwertstreich zerschlagen sind? Der Historiker Reinhard Rürup hat nüchtern festgestellt: Die Alliierten kamen nicht ins Land, „um die Deutschen zu befreien, sondern um sie zu besiegen“. Man entwertet den großen Schritt, den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung zu begreifen, wenn man es sich mit ihm zu einfach macht, ihn sozusagen gänzlich in strahlendes Dur transponiert und seine Moll- und Misstöne überhört. Wer ihm das Zwiespältige austreibt, bringt den Tag um seinen Sinn.

Überdies war das Nazi-Regime, ja, leider, keine Fremdherrschaft, die den Deutschen von einer bösen Macht auferlegt worden war; es wurde von ihnen die längste Zeit mitgetragen und gestützt, allzu oft aus innerer Überzeugung. Walter Kempowski zitiert den Schriftsteller Elias Canetti, der damals über die Deutschen notierte: „Es ist das Maß der Täuschung, in der sie gelebt haben, das Riesenhafte ihrer Illusionen, das Blindwütige ihres hoffnungslosen Glaubens, was einem keine Ruhe gibt.“

Es ist ein langer Weg, den die Deutschen zurücklegen mussten, um begreifen zu können, dass die deutsche Niederlage ein Tag der Befreiung war. Es ist, in aller Kürze gesagt, nichts Geringeres als der Weg der Bundesrepublik von der erschütterten, orientierungslosen „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) zu einem demokratischen Gemeinwesen. Es ist die Konsequenz eines Umlenkens und Umdenkens, von politischer Erneuerung und gesellschaftlicher Modernisierung, von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Aussöhnung mit den Nachbarvölkern – also die Summe der Wandlungen, die die Bundesrepublik zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Weil das aus diesem Tag hervorgehen konnte, wird die Niederlage zur Befreiung. Oder, mit dem pointierten Schluss von Johannes Rau: Der 8. Mai 1945 „sei zunächst ein Sieg über die Deutschen gewesen, habe sich dann aber als ein Sieg für die Deutschen erwiesen“.

Wie Erinnerungspolitik fehlgehen kann, hat die DDR vorgeführt. Denn die Rolle als Staatsfeiertag – bis 1967, als er der Einführung der Fünf-Tage-Woche zum Opfer fiel – ist dem 8. Mai nicht gut bekommen. Er wurde überdeutlich in den Dienst der Staatsdoktrin gestellt. Das machte den Tag zu einer Art Heldengedenktag, für die siegreiche Sowjetunion, dazu für den kommunistischen Kampf gegen den Faschismus – und schob die DDR unterschwellig, manchmal auch ziemlich deutlich, auf die Seite der Sieger der Geschichte. Das bezahlte der 8. Mai mit einer militanten Ritualisierung – und die Geschichte mit einer Deformation, die die DDR von ihrer Verantwortung für diesen Teil der deutschen Geschichte sozusagen freistellte.

Ein Tag, dem schwer gerecht zu werden ist, ist der 8. Mai noch immer. Aber die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat sich schließlich doch gelohnt. Auch das lässt sich an der Geschichte dieses Tages ablesen. Man braucht sich nur an die Gedenkveranstaltungen zur 50-jährigen Wiederkehr des Kriegsendes im Jahre 1995 zu erinnern. Damals begingen die Repräsentanten der europäischen Staaten und der USA den Tag in einer gemeinschaftlichen Aktion, nacheinander in London, Paris, Berlin und Moskau. 1985 war Richard von Weizsäcker noch der Überzeugung gewesen, die Deutschen sollten diesen Tag unter sich begehen. Nun waren sie gleichberechtigte Teilnehmer des Gedenkens.

Der 8. Mai ist heute als ein Tag der Befreiung nicht mehr umstritten. Die Mehrheit der Deutschen hat seine Botschaft verstanden. Inzwischen gibt auch ein sich wandelndes Geschichtsgefühl den Erinnerungen der Deutschen mehr Raum, gewinnen ihre Irrungen und Wirrungen, ihre Verluste und ihre Trauer einen Platz im kollektiven Bewusstsein. Und das Gedenken an dieses Schlüsseldatum rückt uns vor Augen, wohin der Weg geführt hat, der damals begann: Wir sind freie Bürger eines freien Landes. Wir sind nach bald 30 Jahren Mauer wieder eine Stadt. Wir sind nach 40 Jahren Zweistaatlichkeit wieder ein Land.

Und wo vor 65 Jahren ein amerikanischer Offizier auf dem Weg zur Kapitulation in Karlshorst „einen brennenden, rauchenden, explodierenden und Tod verbreitenden Vulkan“ sah, der Berlin hieß, wo vor 20 Jahren Brachflächen die Mitte der Stadt teilten, hat sich eine urbane Wiederauferstehung ereignet, die man nur mit Staunen und Freude registrieren kann.

Doch der 8. Mai zwingt auch dazu, uns klarzumachen, dass diese Erfolgsgeschichte einen tief dunklen Grund hat. Der Historiker Peter von Kielmansegg hat ihn unnachsichtig formuliert: „Es war die Katastrophe, die Deutschland demokratiefähig gemacht hat. Es war die Katastrophe, die Deutschland gelehrt hat, sich in die europäische Staatengesellschaft einzufügen. Es war die Katastrophe, die Deutschland gezwungen hat, sich selbst neu zu definieren.“ Doch dieses Scheitern war, „nur eine notwendige, sie war keine hinreichende Bedingung des Lernens“.

Es brauchte den großen Prozess des Umdenkens und der Umkehr, den die Deutschen in der Nachkriegszeit absolviert haben, um sie zu Demokraten und zu verlässlichen Partnern der freien Welt zu machen. Deshalb ist das Begreifen des 8. Mai 1945 als eines Tages der Befreiung kein Manöver, um sich die deutsche Geschichte fortschrittsgerecht zurechtzulegen. Sondern das Zeichen des Fortschritts der Deutschen im Bewusstsein von Freiheit, Zivilgesellschaft und Demokratie.

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