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Meinung: Abschied vom Mythos

Die Identität der Israelis: Mit dem Zionismus sind die Juden aus dem Reich der Legenden wieder in die Geschichte eingetreten.

In Israel debattiert man gegenwärtig über eine neue Betrachtung des Zionismus im Geschichtsunterricht und die Frage, ob die zionistischen Mythen dabei zu Bruch gehen könnten. Dazu erschien in der Tageszeitung „Ha’aretz“ ein komischer, aber in gewisser Hinsicht auch anrührender Leserbrief: Selbstverständlich müsse die Geschichtsforschung weiterhin der historischen Wahrheitsfindung verpflichtet bleiben, meinte der ältere Verfasser, doch könnte diese Wahrheit womöglich wichtige jüdische und zionistische Geschichten und Mythen entkräften und so die nationale Identität in ihren Grundfesten erschüttern. Deswegen schlug er vor, neben dem Geschichtsunterricht ein eigenes Unterrichtsfach einzuführen, um unverzichtbare zionistische oder jüdische Mythen gegen Schäden durch den Geschichtsunterricht gefeit zu machen. Dieser Vorschlag für eine Koexistenz von Mythos und Historie verweist auf die pädagogische Not mit der Identität, die in den kommenden Jahren noch zunehmen wird.

Jedes Volk macht sich heute Gedanken darüber, wie es seine nationale Identität zwischen klarer historischer Überlieferung und der alles überschwemmenden globalen Identität hindurchsteuern soll. Das jüdische Volk muss diese Frage jedoch doppelt ernst nehmen, denn seine nationale Identität basierte im Lauf der Jahrhunderte vorwiegend auf Mythen und nur sehr geringfügig auf realer Geschichtskenntnis und Geschichtsverbundenheit. Ich möchte dies noch schärfer formulieren: Das israelische Volk (hier meine ich nur die Juden in Israel, nicht die der Diaspora) muss sich nun entscheiden, an welchem Modell nationaler Identität es sich künftig orientieren möchte – am europäischen Modell, das vorwiegend auf dem Bewusstsein einer zeitlich und örtlich fortlaufenden Geschichte aufbaut, oder an dem amerikanischen Modell, das sich für die Schaffung und Wahrung der nationalen Identität weitgehend auf alte und neue Mythen stützt.

Was ist ein Mythos? Das Wort stammt aus dem Griechischen, und bei Homer hat es verschiedentlich die klare Bedeutung: wahre Tatsachenlage. Mythos bedeutete „Wort“ im Sinne einer letztgültigen Aussage, das davon abgeleitete Verb bedeutete die Wahrheit sprechen. Der berühmte Kulturforscher Roland Barthes bezeichnet den Mythos und die Mythologie als ein Arrangement mit der Welt, nicht wie sie ist, sondern wie sie sein sollte.

Der Mythos in Griechenland hatte die Aufgabe, das Rationale und die philosophische Wahrheit in Relation zur Tradition und zu den religiösen Glaubensvorstellungen zu setzen. Es war ein vorwissenschaftlicher Versuch, eine bestimmte echte oder vermeintliche Erscheinung durch die Beziehungen der Götter untereinander und zu den Menschen zu erklären. Menschlicher Mythos ist also menschliche Wahrheit, nicht die Wahrheit an sich.

Der Mythos ist eine Übergeschichte, die über der zeitlich und örtlich verankerten Historie schwebt und eine tiefere, allgemeine und ewige Wahrheit ausdrücken und verkörpern möchte, die weit größere aktuelle Relevanz besitzt als die historische Tatsache, die nach Ablauf ihrer Zeit Makulatur wird. Der Mythos bleibt immer lebendig, kann verschiedenen Völkern und Menschen gemeinsam sein. Die Geschichte von Jesu Kreuzigung und Auferstehung ist keine historische Tatsache, die sich im Jahr 30 der üblichen Zeitrechnung zugetragen hat, sondern ein Mythos, an dessen Wahrheit und Bedeutung über eine Milliarde Menschen glauben, vielleicht sogar mehr, als sie den Wahrheiten vertrauen, die ihnen ihre Morgenzeitung liefert.

Eine besonders bedeutsame und gewaltige historische Tatsache kann im Lauf der Jahre zum Mythos aufsteigen. Die Schoa beispielsweise ist nicht nur ein weiteres historisches Ereignis, das zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geschehen ist, sondern sie schwebt auch schon irgendwo in den Wolken des Mythos. Die kollektiven Märtyrerfreitode der Juden während der Kreuzzüge Ende des 11. Jahrhunderts haben längst ihren historischen Ort und ihre historischen Ursachen überschritten und sich in mythologische Vorbilder verwandelt. Die Juden stützten ihre Identität in der Diaspora über zweitausend Jahre lang weit mehr auf mythologisches als auf historisches Bewusstsein. Das beruhte zunächst auf dem einfachen Umstand, dass ihre jüdische Identität über die Jahrhunderte religiös begründet war und religiöse Identitäten nun mal vorwiegend auf mythologischen, nicht historischen Elementen basieren. Da ein Zusammenleben als Nation auf einem einheitlichen Territorium mit einer einheitlichen Nationalsprache für die Juden nicht real, sondern lediglich imaginär war und sie ihre Gemeinsamkeit metaphorisch und symbolisch im religiösen Kult erlebten, hatten sie kaum je Gelegenheit, ein genaues Bewusstsein historischer Identität auszubilden, das an klare Orte und eine klare chronologische Achse gebunden gewesen wäre.

Ich möchte das an einem Beispiel zu veranschaulichen suchen: Die Juden bewahrten die Trauer über die Zerstörung des Tempels in Form eines alljährlichen Gedenk- und Fasttags. An diesem Trauertag, der in Israel bis heute begangen wird, trauern die Juden eigentlich über die Zerstörung zweier Tempel. Der erste Tempel wurde 580 v. Chr. zerstört, der zweite 70 n. Chr. Es sind also zwei ganz unterschiedliche historische Ereignisse, die über sechshundert Jahre auseinander liegen und auch ganz verschiedene Hintergründe hatten. Ihre Zusammenlegung macht das Gedenken ahistorisch. Es bleibt nur die – eher vage und verschwommene – mythologische Erinnerung an ein Zerstörungswerk.

Da die Juden von Ort zu Ort wanderten und selbst dort, wo sie, wie etwa in Polen, Hunderte von Jahren an einem Ort lebten, ihren Wohnsitz nur als vorübergehend betrachteten, als eine Art Zwischenstation, hatten sie auch kein Interesse daran, ihre Lebensweise an ihrem Wohnsitz für spätere Generationen zu dokumentieren oder ihre Beziehungen zu den Nichtjuden, unter denen sie lebten, für bleibende Zwecke zu erforschen, denn Ort und Zeit waren ihnen bedeutungslos, etwas Flüchtiges und Vorübergehendes, das nicht in der nationalen Erinnerung bewahrt werden musste. Bald würde ja der Messias kommen und sie in ihre ursprüngliche Heimat, an ihren wahren Stammplatz, zurückführen, und selbst im Land Israel würde die Zeit sich in eine andere, eine göttliche Heilszeit verwandeln, und das ganze Leben, das bisher in Abhängigkeit von den Wirtsvölkern verlaufen war, würde eine gänzlich neue Wendung nehmen.

Weil die Juden außerdem in aller Welt verstreut lebten, war es praktisch auch gar nicht möglich, die Historien so unterschiedlicher und einander so fremder Orte miteinander zu verknüpfen. Wie sollte ein Jude, der in Jemen lebte, die Lebensweise eines polnischen Juden im Bewusstsein bewahren, wenn er keinerlei Zugang zur polnischen Wirklichkeit besaß? Die Basis, auf der ein jemenitischer und ein polnischer Jude sich verbunden fühlen konnten, lag daher nicht im Rahmen einer spezifischen historischen Erinnerung, sondern einzig und allein in den gemeinsamen Mythen.

Deshalb wiederholten die Juden unermüdlich den Spruch: „In jeder Generation soll jeder Mensch sich so betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen.“ Das heißt, der Mythos als Gegenpart zur Historie ist greifbar und lebendig, und die Juden sind aufgefordert, ihre Identität an diesem Mythos auszurichten und nicht an dem aktuellen historischen Zusammenhang, in dem er wirksam wird.

Der klarste Vorteil eines solchen mythologischen Bewusstseins lag darin, dass die Juden, die unter verschiedenen Völkern und Zivilisationen in aller Welt verstreut lebten, dabei doch ihre Identität im Kern bewahren konnten, ohne zu sehr von den örtlichen historischen Gegebenheiten abhängig zu sein. Trotz enormer Unterschiede in den Lebensbedingungen der einzelnen Gemeinden konnten die Juden ihre Einheit durch die Treue zu denselben Mythen wahren. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um religiöse Mythen, aus denen im Lauf der Zeit allerdings auch allgemeine geistige Mythen hervorgingen. Darüber hinaus fanden die Juden in diesen Mythen, etwa dem Mythos der messianischen Erlösung, Hoffnung in schweren Momenten der Verfolgung.

Die Nachteile des mythologischen Bewusstseins übersteigen die Vorteile jedoch bei weitem. Zunächst einmal sind nicht alle Menschen fähig, ihre Identität über lange Zeit auf ein mythologisches Bewusstsein zu stützen, ohne wirkliche Bindung an die reale Heimat und ohne den Zusammenhalt, den das gemeinsame Leben eines Volkes auf einem bestimmten Stück Land zwangläufig bietet. Deshalb sind in den Jahrhunderten des Diasporalebens viele Juden durch Assimilation in ihrer nichtjüdischen Umgebung aufgegangen, haben ihre jüdische Identität eingebüßt. Gab es in der antiken Welt des ersten nachchristlichen Jahrhunderts noch vier bis sechs Millionen Juden, waren es 1800 Jahre später nur noch eine Million. Aber schlimmer noch – der Mythos steht festgefügt wie eine Leibniz’sche Monade. Er lässt sich weder verändern noch korrigieren, ist nicht einmal rationaler Kritik zugänglich, höchstens der Interpretation. Man kann ihn praktisch nur annehmen oder verwerfen. So akzeptierten die in ihrem mythologischen Bewusstsein befangenen Juden beispielsweise den Hass der Nichtjuden als unabänderliches Schicksal. Auf bestimmten Ebenen löste ihre mythologische Identität auch mythologische Reaktionen ihrer Wirtsvölker aus. So stand der Kreuzigungsmythos im christlichen Bewusstsein in unüberbrückbarem Gegensatz zum Mythos der jüdischen Identität. Die mythologische Identität hinderte die Juden auch daran, sich unter andere historische Völker einzureihen und ihre eigene Geschichte als Teil der Weltgeschichte zu sehen. Sie betrachteten sich immer als etwas wesentlich anderes, als Ausnahmeerscheinung.

War der einzelne mythologische Jude geografisch beweglich, sozial flexibel und allgemein anpassungsfähig, so verharrte das jüdische Kollektiv starr und versteinert in seiner mythologischen Identität, die ihm neben Zerstörungsvisionen auch passive Hoffnungen auf himmlische Erlösung lieferte. Wie die Schoa beweist, hinderte das die Juden daran, die grauenhaften Gefahren, die ihnen drohten, richtig einzuschätzen.

Als der große jüdische Denker Gershom Scholem den Zionismus als Rückkehr der Juden in die Geschichte definierte, meinte er daher an erster Stelle, die Juden könnten nun das mythologische Element ihrer Identität abschwächen und dafür ihr historisches Bewusstsein stärken, das Bewusstsein, in einem territorialen Heimatland mit klaren Grenzen zu leben, auf einer Zeitachse, die ein Vorher und Nachher kennt. Ein Bewusstsein, das fähig ist, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und daran glaubt, sie künftig korrigieren zu können. Ein Bewusstsein, das auch die Geschichte anderer – vor allem benachbarter – Völker studiert, aus den Leistungen und Fehlern lernt, wie man sich ändern und bessern kann, ohne den Kern seiner Identität aufzugeben.

Obwohl der Zionismus über hundert Jahre alt ist und große Erfolge bei der Gründung einer nationalen Existenz zu verzeichnen hat, ist der Kampf zwischen historisch israelischem und mythologisch israelischem Bewusstsein längst nicht ausgefochten. Das mythologische Bewusstsein wird in Israel weiterhin durch mindestens vier Faktoren gespeist:

1. durch das Fortbestehen großer religiöser Gemeinden in Israel, die an den Grundelementen des mythologischen Bewusstseins festhalten, 2. durch das feste Band zur jüdischen Diaspora, deren Identität meist weiterhin auf den alten Mythen basiert, 3. durch Globalisierungsprozesse, die nationale Identitäten schwächen und die Verbreitung neuer weltweiter Mythen fördern, unter die die Juden ihre eigenen Mythen leicht eingliedern können, 4. durch die symbiotische politische Verbindung zu den Vereinigten Staaten, deren Identität eher zum Mythos denn zur Historie neigt.

All diejenigen unter uns, die das historische Bewusstsein festigen möchten – sei es als Gegenmittel gegen regressive religiöse Elemente, sei es, um das israelische Nationalbewusstsein gegen die jüdische Diasporabindung zu stärken, sei es als Mittel zur echten Eingliederung Israels in die Familie der Völker und zur Normalisierung seiner Existenz als eine Nation, die moralische Verantwortung für ihr Handeln übernimmt und nicht mehr mythologischen Schicksalsfügungen ausgeliefert ist – alle, die dieses Ziel durch Forschung oder Kunst erreichen möchten, sollten sich lieber vom Modell der europäischen Identität inspirieren lassen.

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.

Abraham B. Jehoschua

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