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Meinung: Alles Taktik, oder was?

Von Malte Lehming

Keiner freut sich mehr über den deutschen Atomausstieg als Wladimir Putin. Schon jetzt ist Deutschland abhängiger von Russlands Energielieferungen denn je. Falls es nicht gelingt, die Atomkraft bis 2020 komplett durch Sparen und regenerative Energien zu ersetzen – woran sich zweifeln lässt –, wird diese Abhängigkeit noch größer. Früher drohte Moskau mit Raketen, heute hat es seine Rohstoffe. Ganz grob gesagt, lässt sich daher das Verhältnis der deutschen Parteien zu Russland, Putin und Gasprom auf einen Nenner bringen: Wer unbedingt am Atomausstieg festhalten will, wie Grüne, SPD und Linkspartei, ist beim Thema Menschenrechte eher kleinlaut. Wer die Laufzeiten für Kernkraftwerke verlängern, eventuell sogar neue bauen lassen will, wie Union und FDP, hat dagegen weniger Skrupel, in Richtung Moskau deutliche Worte zu formulieren.

Beim EU-Gipfel im finnischen Lahti hat Putin es erneut abgelehnt, den Europäern eine langfristig sichere Energieversorgung zu garantieren. Auch die Ratifizierung der Energie-Charta lehnte er ab. Insofern überrascht es nicht, dass unmittelbar danach sowohl die Kanzlerin als auch der Wirtschaftsminister ein offensives Bekenntnis zur Atomkraft abgaben. „Ich halte es für falsch, dass wir Kernkraftwerke abschalten, nur weil es so vereinbart ist“, sagte Angela Merkel. Und Michael Glos kritisierte den Ausstieg gar als „Riesendummheit“.

Noch bleibt das Thema unterhalb der großkoalitionären Krachebene. Eine Verletzung des in dieser Hinsicht klaren Koalitionsvertrages beabsichtigt die Union nicht. Außerdem ist fraglich, ob es zur Profilierung taugt. Die Angst der Deutschen vor der Atomenergie könnte größer bleiben als ihre Abscheu vor Russlands neuem Autoritarismus. Was also bewegt Merkel, mit zunächst folgenloser Rhetorik ein so hohes Risiko einzugehen? Der Grund, falls es einen vernünftigen gibt, könnte innenpolitischer Natur sein. Einmal angenommen, die große Koalition platzt und die Ampel-Jamaika-Debatte wiederbelebt sich – dann muss die Union den Grünen etwas anbieten können, was für sie wirklich zählt. Etwas Großes, Wichtiges, Elementares. Eine Abkehr von der Abkehr vom Atomausstieg: Das wäre so etwas. Zu spekulativ? Zu sehr um die Ecke gedacht? Mal abwarten. Der Fortbestand der großen Koalition könnte fragiler sein, als es scheint.

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