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Meinung: Amerikanische Verpuffung

Die Bush-Regierung wirkt verbraucht – als wäre ihre Zeit bereits abgelaufen

Manchmal sind solche Momente traurig. Da ist der Komiker, der seine Witze genauso reißt wie früher, aber es lacht keiner, der Schriftsteller, der seine Romane wie immer schreibt, aber plötzlich langweilen sich die Leser, der Revolutionär, der seine Parolen mit gewohnter Verve verbreitet, doch niemand hört mehr hin. Warum wirkt etwas gestern – und nicht heute? Ein schlichter, schöner, bitterer Satz beschreibt das Phänomen: Die Zeit ging über ihn hinweg.

Politiker spüren das besonders oft. Zwei atemberaubende Entwicklungen vollziehen sich derzeit in den USA. Da ist zum einen der galoppierende Ansehensverlust des Präsidenten. George W. Bush kann machen, was er will, er kann auf der gesamten Klaviatur seines Amtes spielen – getragen, forsch, visionär, ernst –, er kann programmatische oder patriotische Reden schwingen, er kann, wie gestern, im nationalen Fernsehen kritische Einwände parieren: Der Abwärtsstrudel, der ihn und seine Regierung erfasst hat, ist stärker. Die Verhaftung Saddam Husseins? Schon wieder vergessen. Eine bemannte Mars-Mission? Als Utopie verlacht. Die Reform der Einwanderungsgesetze? Eine Finte, um sich die Gunst der Latinos zu sichern. Seine Rede an die Nation? Verpufft.

Im Weißen Haus herrscht Nervosität. Mit Pech allein, schlechter Vermarktung oder ungünstigen Bedingungen lässt sich der Trend nicht länger erklären. Das Problem sitzt tiefer. Die alljährliche Rede an die Nation etwa gilt als einmalige Gelegenheit, einen politischen Akzent zu setzen. Bill Clinton riss damit 1996 die Stimmung herum. Bis zum Wahltag lag er anschließend in den Umfragen vorn. Und Bush? In der jüngsten Gallup-Erhebung liegt er mit 46 zu 53 Prozent hinter John F. Kerry, dem neuen Star der Demokraten. Dessen Aufstieg wiederum scheint unaufhaltsam.

Das ist die zweite atemberaubende Entwicklung. Nach seinen Siegen in Michigan und Washington steht Kerry als Kandidat der Opposition so gut wie fest. Es muss schon ein Wunder geschehen, damit dem Senator aus Massachusetts einer seiner Rivalen noch gefährlich werden kann. Er wirkt wie die ideale Lösung für das Hauptproblem der Demokraten. Das heißt: „Bush soll weg.“

In Rekordzahlen sind die Aktivisten bislang zu den Vorwahlen geströmt. Erstaunliche Energien wurden freigesetzt. Der Einwand, wegen der guten Wirtschaftszahlen sei Bush unschlagbar, klingt auf einmal wie ein Mantra. In einer Mischung aus altem Trotz und neuem Mut schallt es zurück: „Das wollen wir sehen.“ Bei den letzten drei Präsidentschaftswahlen lag, in absoluten Zahlen, ein Demokrat vorn. 2000 gingen außerdem rund drei Millionen Stimmen an den Kandidaten der Grünen, Ralph Nader, verloren. Das ist ein Potenzial, das hoffen lässt.

Des einen Hoch ist des anderen Tief. Einige Gründe für die veränderte Dynamik liegen auf der Hand: Zweifellos schadet Bush die Debatte um die fehlenden irakischen Massenvernichtungswaffen. Sein neuer Haushaltsentwurf mit dem historischen Defizit von 521 Milliarden Dollar schockiert selbst Parteifreunde. Doch gewichtiger ist die Wahrnehmungsverschiebung. Die Regierung wirkt verbraucht, ausgelaugt, erschöpft. Ihr Werk hat sie verrichtet, ihr Pulver verschossen. In die Zukunft weist sie nicht.

Immer mehr Amerikaner erwachen gerade aus einer Art Trance. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten sie in einen lang anhaltenden Ausnahmezustand versetzt. Langsam gewinnen sie nun das Gespür für Maße und Dimensionen zurück. Die Opposition wiederum hat ihre Scheu verloren. Plötzlich wirken Bush, Cheney und Rumsfeld wie die Akteure eines alten Dramas. Ihre Slogans klingen nach gestern. Vielleicht wird es einst schlicht heißen: Die Zeit ging über sie hinweg.

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