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Gastbeitrag: Die deutsche Demokratie ist schwach

Die deutsche Gesellschaft ist nicht stark genug, um mit dem Neonazismus zu leben. Im Gegenteil, sie hat sich mit ihm arrangiert und übt sich in systemimmanenter Blindheit für die Gefahren, die nicht nur dem türkischen Gemüsehändler drohen, meint unser Gastautor. Eine Gegenthese zu Heribert Prantl.

Im Zuge der Debatte um ein Verbot der NPD wird in den Medien breit und vielfältig diskutiert. Der Kommentar des Journalisten der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, allerdings ließ mich von meinem Bürostuhl aufhüpfen, als ob die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes mir eine Ohrfeige verpasst hätten. Heribert Prantl vertritt die einseitige wie wenig empathische These, dass die deutsche Demokratie stark genug sei, um mit dem Neonazismus zu leben, aber der türkische Gemüsehändler wäre es nicht.

Die These Heribert Prantls bereitet mir große Bauchschmerzen

Nun bin ich kein türkischer Gemüsehändler, wohl aber ein in Deutschland ausgebildeter Akademiker mit eigener Denkfabrik, die sich auch mit der Frage beschäftigt, wie die diversitätskompetente Gesellschaft in Deutschland hergestellt werden kann. Und - ach ja! - ein Türke mit deutschem Pass bin ich auch. Und als ein solcher Bürger dieses Landes, der nicht hier geboren wurde, aber in diese Gesellschaft hineingewachsen ist, fühle ich mich nicht nur von dem Neonazismus in Deutschland bedroht, auch die These Heribert Prantls bereitet mir große Bauchschmerzen. Denn er demonstriert dieselbe systemimmanente Blindheit, die für das mehrfache Versagen dieser Gesellschaft im Umgang mit der neonazistischen Ideologie verantwortlich ist.

Die Ignoranz der gesellschaftlichen Mitte ist eine tragische Komödie

Es grenzt angesichts dessen an eine tragische Komödie, zuzusehen, wie die Mitte dieser Gesellschaft sich in der Ignoranz übt, den Neonazismus als ein Randphänomen zu deklarieren. Dabei diagnostiziert der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer in seiner über zehn Jahre andauernde Langzeitstudie “Deutsche Zustände”, dass dieses vermeintliche Randphänomen sukzessive sich den Weg in die Mitte dieser Gesellschaft gebahnt hat. Zu einem ähnlichem Ergebnis kommen auch die Sozialforscher, die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung periodisch den Antisemitismus und die Xenophobie in der Gesellschaft erheben. Auch sie weisen alarmierend darauf hin, dass die Mitte sich in der Krise befindet.

Das Gleichgewicht von “checks and balances” in der deutschen Demokratie ist gekippt

Das wohl augenscheinlichste Indiz für die systemimmanente Blindheit und das systemische Versagen gegenüber dem Neonazismus in Deutschland sind die NSU-Morde. Jene für die Sicherheit zuständigen Verfassungsorgane dieses Landes, die gewalttätige Aktivitäten aus der Ecke des Linksextremismus und des islamischen Fundamentalismus vorzeitig aufdecken können, haben - wie jüngste Untersuchungsergebnisse nun belegen - signifikante Hinweise auf das neonazistische Mördertrio über Jahre ignoriert. Hinzu kommt, dass die politisch Verantwortlichen dieser Verfassungsorgane in den Untersuchungsausschüssen sich wenig bemüht zeigen, die Vorgänge um die NSU-Morde aufzuklären. Dieses unverantwortliche und für eine Demokratie unwürdige Verhalten politischer Entscheidungsträger zeigt schließlich auf, dass das Gleichgewicht von “checks and balances” zwischen den Verfassungsorganen, ein wesentliches Merkmal funktionierender Demokratien, in Deutschlands gekippt ist, oder mindestens in eine gravierende Schieflage geraten ist. Damit komme ich zu meiner Gegenthese zu der Heribert Prantls: Die deutsche Demokratie ist schwach! Sie ist nicht stark genug, um mit dem Neonazismus zu leben. Vielmehr hat sie sich mit dem Neonazismus arrangiert, wohl in der Erwartung, dass er eher eine Bedrohung für den türkischen Gemüsehändler ist als für die autochthonen Deutschen.

Das ist ein schrecklicher Irrtum, der schnell überwunden werden sollte! Denn dieser Irrtum begründet sich nicht nur aus dem historisch-gewachsenen Reflex des schuldbeladenen Deutschen, der der Welt demonstrieren möchte, ein guter Demokrat geworden zu sein; diese auf einer extrinsischen Motivation beruhende Haltung verleitet eben zu dieser Blindheit. Es hat auch den Handlungsspielraum der neonazistischen, anti-demokratischen und europafeindlichen Kräften in Deutschland erweitert.

Meine Pflicht als aufgeklärter Bürger dieses Landes

Dieser Aufschrei erfolgt nicht in aller Freundschaft. Als Bürger dieses Landes, der in der Tradition der Aufklärung steht, empfinde ich es als meine Pflicht, manchmal auch im schrillen oder schmerzlichen Ton die Perspektive insbesondere von in Deutschland beheimateten Türken zum Ausdruck zu bringen. Denn ich bin mir sicher, dass ich mit dem Gefühl, nicht in Sicherheit zu leben, nicht alleine bin. Dies ist ein Zustand, der nur mit gemeinsamer Anstrengung überwunden werden kann.
Der Autor Kamuran Sezer, geboren 1978, ist Leiter des Dortmunder futureorg Instituts, einer Denkfabrik für Diversity und gesellschaftlichen Wandel.

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