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Seit dem vergangenen Herbst sitzen die Piraten im Berliner Parlament. Einige Abgeordnete beklagen seither eine Verrohung der Sitten. Aber gibt es wirklich einen Zusammenhang?

© dapd

Gastkommentar: Abgeordnete pöbeln aus Frust

Die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses Anja Schillhanek meint: Die parlamentarische Debatte ist zum Ritual erstarrt – verbale Ausfälle sind die Folge.

Ja, da hat ein Abgeordneter „Scheiße“ gesagt. Und ein anderer hat jemanden im Rückgriff auf Schillers „Räuber“ als „Kanaille“ bezeichnet. Und ein ganz gewitzter Kollege hat auch schon mal vorgeschlagen, man solle mal „die Kresse halten“.

Alles nichts, was beschönigt werden sollte. Und in einigen Fällen eindeutig unparlamentarisch, wie vom Präsidium zu Recht kritisiert. Bei aller Liebe zur direkten, umgangssprachlichen Auseinandersetzung: Ein bisschen sollte man schon die Form wahren.

Aber: Wer sich darüber echauffiert, seit Beginn dieser Wahlperiode seien die Sitten verroht, verdrängt zum einen, dass die Auseinandersetzungen auch schon früher gern mal verbal eskalierten. Vor allem aber zielt er am eigentlichen Problem vorbei, denn es geht nicht darum, dass im Abgeordnetenhaus zu scharf miteinander diskutiert würde. Das Problem ist, dass im Parlament zu wenig, oft zu ritualisiert und ohne Alltagsbezug debattiert wird. Das nehmen auch Besucher wahr – und auch einige Abgeordnete nehmen die Arbeit des Verfassungsorgans offenbar so wenig ernst, dass sie in Einzelfällen ihrem Unmut auf ziemlich unpassende Art und Weise Luft machen.

Ein Parlament ist aber nicht einfach ein großes Gebäude, wo Abgeordnete reingehen, gelegentlich mal ein Gesetz rauskommt, und das ansonsten vor allem bitte nicht stört. Ein Parlament, das sich in seiner Rolle als Volksvertretung und Organ einer repräsentativen Demokratie ernst nimmt, muss Ort gesellschaftlich relevanter Debatten sein.

Das Parlament sollte zudem jener Ort sein, an dem im Austausch und Wettstreit der Argumente darum gerungen wird, die besten Lösungen zu finden. Wo Inszenierung und simples ‚Koalition gegen Opposition‘ inhaltliche Auseinandersetzungen ersetzt, sind Bürger und Bürgerinnen zu Recht frustriert und der Selbstzentriertheit des Politikbetriebes überdrüssig. Wo es nur darum geht, den anderen möglichst nicht gewinnen zu lassen, und das um jeden Preis, erscheint dann bis zur Fäkalsprache und direkten Beleidigung auch fast jedes Mittel recht – und wie auf dem Bolzplatz scheint zu gelten: Wenn’s der Schiedsrichter nicht gesehen hat, war’s auch kein Foul.

Es ginge auch anders. Müssen wir denn unsere Plenarsitzungen mit einer ganzen Stunde schriftlich eingereichter Fragen beginnen, deren Beantwortung durch den zuständigen Senator dann ebenfalls vom Blatt abgelesen wird? Besser kann man eine lebendige parlamentarische Debatte kaum abwürgen.

Beispiel Aktuelle Stunde: Alle Fraktionen reichen ihre Vorschläge am Montag ein, im Plenum wird begründet, und es gibt eine Abstimmung über das Thema, deren Ausgang vorher feststeht. Wie wäre es, einen ausreichenden Zeitraum in der Plenarsitzung festzulegen, innerhalb dessen mehrere aktuelle Themen von den Fraktionen diskutiert werden können? Und wenn Fraktion A nicht zum Thema von Fraktion B reden will, dann lässt sie’s halt, oder fasst sich kurz – statt in der Begründungsrunde den eigenen Redner die Themen der anderen als wenig aktuell und irrelevant diffamieren zu lassen. Auch eine solche Arroganz im Auftreten gegenüber den Interessen anderer Fraktionen und Abgeordneten, die ja ebenfalls gewählt und nicht zufällig im Parlament sind, ist mindestens genauso unparlamentarisch wie gewisse Kraftausdrücke.

Wer sich jetzt über den Verfall parlamentarischer Kultur beklagen will, sollte sich nicht zu sehr an der Wortwahl einiger jüngerer Kollegen, egal welcher Fraktion, festbeißen, sondern daran, ob das Parlament seine Aufgabe als zentraler gesellschaftlicher Diskursort wahrnimmt. Darin liegt seine Vorbildrolle, und diesem Anspruch sollten Parlamentarier auch in ihrem sonstigen Gebaren folgen. Politiker sind nicht fehlerfrei – aber die Frage nach der Wortwahl ist allerhöchstens der zweite Schritt.

Die Autorin gehört der Grünen-Fraktion an und ist Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses.

Anja Schillhanek

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