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Meinung: Auf den Deichen

Von Hans-Peter von Kirchbach WO IST GOTT? Fünf Jahre nach der Oderflut ist Deutschland wieder von einer großen Überschwemmungskatastrophe betroffen, diesmal vor allem an der Elbe.

Von Hans-Peter von Kirchbach

WO IST GOTT?

Fünf Jahre nach der Oderflut ist Deutschland wieder von einer großen Überschwemmungskatastrophe betroffen, diesmal vor allem an der Elbe. Und wieder bin ich im Flutgebiet unterwegs. Wie sich die Bilder gleichen. Erinnerungen steigen hoch.

Ich sehe das braune Wasser bis an die Deichkronen reichen. Ich sehe riesige überschwemmte Flächen, an den Bäumen kann man ahnen, wo der Fluss einst verlief. Ich sehe überschwemmte Felder, zerstörte Häuser. Ich sehe Möbel, Einrichtungsgegenstände, Gut, für das die Menschen jahrelang gearbeitet haben, in einer Flutwelle unbrauchbar geworden, zum Müll geworfen. Ich sehe zerstörte Häuser, Höfe, ahne die vernichteten Existenzen, die hinter diesen Bildern stehen.

Ich sehe die Bewohner eines Pflegeheims, die man in eine Schule gerettet hat, sehe ihre verstörten Blicke, sie verstehen ihr Schicksal nicht. Ich sehe die Augen der verzweifelten Menschen, die alles verloren haben, die ängstlichen Blicke der Kinder. Ich sehe Menschen, die vor der Flut geflohen sind, sie übernachten in einem Supermarkt, werden dort verpflegt und ärztlich versorgt. Ich höre von den Opfern der Flut, den gestorbenen und vermissten Menschen.

Aber ich sehe auch meine jungen Kameraden in Uniform, wie sie mit Einsatzwillen und Hingabe ihre Aufgabe angenommen haben. Ich höre die jungen Soldaten dieselben Lieder singen wie an der Oder. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Deiche nicht." Ich sehe die jungen Menschen der Hilfsorganisationen aus allen Bundesländern zusammen Sandsäcke füllen, Menschen retten, betreuen, verpflegen. Ich sehe sie helfen bis zur Erschöpfung. Viele von ihnen wollen sich nicht ablösen lassen, wollen sich nicht von ihrer freiwillig übernommenen Aufgabe trennen. Ich sehe Pflegerinnen, die sich rührend um ihre Schutzbefohlenen kümmern. Ich höre die Rufe nach nationaler Solidarität und finde sie überflüssig, weil Solidarität und Hilfe schon reichlich da sind. Ich sehe Jugendliche, die sich aus allen Winkeln auf den Weg gemacht haben und sich zum Einsatz melden. Ich sehe Nachbarn einander helfen. Ich erlebe Menschen, die nicht nach Geld und Verdienst, sondern nach der Aufgabe fragen. Tausende sind es.

Ich sehe Verzweiflung und Trost, tiefe Not und aufkeimende Hoffnung. Ich sehe großes Elend und schnelle Hilfe, ich sehe Dunkelheit. Aber in der Dunkelheit darf ich auch das Licht des anbrechenden Tages ahnen.

Der Autor leitete den Bundeswehreinsatz bei der Oderflut, war Generalinspekteur und ist heute Präsident der Johanniter-Unfall-Hilfe.

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