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Meinung: Auf der Schwelle

Von Anneli Freund WO IST GOTT Das Gerüst ist in den letzten Jahren von der Ostseite zur Westseite gewandert. Anders als eine Baustelle kenne ich die Zionskirche nicht.

Von Anneli Freund

WO IST GOTT

Das Gerüst ist in den letzten Jahren von der Ostseite zur Westseite gewandert. Anders als eine Baustelle kenne ich die Zionskirche nicht. Drinnen sieht es so aus, wie es eben 40 Jahre nach dem letzten Anstrich aussieht. Für die Heizung interessiert sich das Feuerstättenmuseum.

Der Eingang unter dem bereits restaurierten Turm aber ist zugänglich und nicht zu übersehen, wenn die fünf Meter hohen Türen geöffnet sind – nach Süden, zum Zentrum der Stadt hin.

Am Dienstag konnte ich endlich wieder auf meinem Lieblingsplatz in der Mittagssonne sitzen, im Windschatten der Kirche, drinnen noch eisig kalt vom Winter, draußen eingepackt in eine der bereitliegenden Wolldecken: ein bisschen Gefühl von Urlaub in den Alpen. Wir befinden uns schließlich auf dem ursprünglich höchsten „Berg" von Berlin. Nach fünf Minuten setzt sich J. dazu; sie ist mit E. verabredet, um eine Arie aus der Matthäuspassion zu proben. Im Gästebuch bietet H. seine Mithilfe für die offene Kirche an. Eine Mezzosopranistin würde gerne im Gottesdienst singen. Neben Graffities von Kindern finde ich kunsthistorische Erörterungen und Tips für den Einbau einer Heizung (leider ohne den Scheck dazu). In immer neuen Worten beschreiben Menschen, was sie hier finden: in der kalten, stillen, manchmal licht oder klangerfüllten Kirche. Und welcher Teil ihrer – oft verwundeten – Seele zum Schwingen kommt.

Der Ärger vom Vormittag schwindet. Geschäftsführungspflichten: die schriftliche Absage eines Zuschusses, von dem ich fest ausgegangen war, die Mahnung einer noch nicht bezahlten Rechnung (wo ist sie?), das Formular für die Versicherung wegen des Einbruchs im Gemeindebüro. J. besorgt uns einen Kaffee, inzwischen ist E. eingetroffen, die Zeitung bleibt liegen, bis zur Sprechstunde ist noch etwas Zeit und Ärger.

„Darf ich rein?" holt sich ein Besucher bei uns die Erlaubnis. Ein kleiner Junge zerrt seinen Vater so lange am Arm, bis der bereit ist, mit in die Kirche zu gehen. Vorne am Taufbecken hat jemand eine Kerze angezündet: für den Frieden, den Geliebten, der nicht wiederkommt, oder das kranke Meerschweinchen.

Ja, der Turm ist Sonntag um 12 wieder offen. Ja, hier war in den 80er Jahren die Umweltbibliothek und das berühmte Punkkonzert. Ja, Dietrich Bonhoeffer hat hier 1931/32 einen erkrankten Pfarrer vertreten und erste Erfahrungen in einem Arbeiterviertel gemacht. Ja, am 2. März 1873 wurde die von August Orth erbaute Zionskirche von ihrem Stifter Kaiser Wilhelm I. eingeweiht. Nach einem langen Baustopp hatte er die Fertigstellung aus den Reparationszahlungen nach dem deutsch-französischen Krieg finanziert.

Differenzerfahrungen – das könnte die Überschrift über dem Platz und dem Gebäude mit seiner Geschichte sein. Hier, auf der Schwelle, treffen sie sich: gerade mal wieder allein oder frisch verliebt, mit und ohne Kinder, auf der Suche nach etwas, das die wenigsten beschreiben können. Altgeworden in dieser Gegend, neuzugezogen oder auf der Durchreise, schon immer dagegen, nicht mehr ganz sicher, fürchterlich enttäuscht vom Leben und der Kirche und Gott, eine leise Sehnsucht spürend, mit ersten Zweifeln, ob nicht doch was dran ist, froh weggehen, froh wiederkommen zu können. Entdecken, dass andere das auch erleben, gemeinsam tasten, mit Worten oder ohne.

„Der Fluch der Gottlosen kann in Gottes Ohren wohlgefälliger klingen als die Hallelujahs der Frommen": Diesen Luther-Satz, den ich bei Bonhoeffer gefunden habe, schätze ich immer mehr, stamme ich doch aus dem Wuppertal, aus dessen Frömmigkeit ich nach der Schulzeit nur fliehen konnte. Dabei übertraf ich als Kind sogar meine Mutter darin. Ihr Angebot: „Wenn du schnell betest, darfst du noch mit deinem Bruder toben, bevor du ins Bett musst" lehnte ich entrüstet ab. Ums Beten darf man doch nicht feilschen. Tilman Mosers „Gottesvergiftung" öffnete der Entkommenen die Augen über ein missbrauchtes Christentum, das die Seele der Menschen einsperrt, statt ihr Schwingen zu geben. Und nun, endlich angekommen und doch auf der Schwelle: Hier können Schwingen nachwachsen.

Die Autorin ist Pfarrerin der Zionskirche in Berlin-Mitte.

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