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Meinung: Auf der Suche nach der neuen Linken

Der Protest gegen den G-8-Gipfel hat viele Facetten. Glaubwürdig ist nur, wer sich klar von Gewalt distanziert

Von Frank Jansen

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht – es geht voran!

Der Song der Fehlfarben ist 27 Jahre alt und bleibt ein Kracher. Nur selten hat eine Band die Unzufriedenheit einer Generation so genial in Parolen ironischer Wut destilliert. Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran! Berge explodieren, Schuld hat der Präsident, es geht voran! Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt, es geht voran! Sollten die Gegner des G-8-Gipfels eine Hymne benötigen, bei den Fehlfarben könnten sie sich bedienen. Denn Geschichte werden sie machen, die protestierenden Massen in Rostock und der Umgebung des abgezäunten Edelghettos von Heiligendamm, wo die Staats- und Regierungschefs tagen werden. Tatsächlich taugen die Politiker in den Augen vieler Gipfelgegner nur zu grauen B-Film-Helden, die globale Ungerechtigkeit und Armut und Klimaerwärmung und damit, wenn schon nicht explodierende, aber zumindest erodierende Berge zu verantworten haben. Hauptsache, für die Reichen geht’s voran.

Der Protest gegen „die Globalisierung“ und „die G 8“ scheint sich oft aus dem Bauch heraus zu artikulieren, er wird auch gespickt mit ranzigen Ressentiments gegen „die Amis“ sowie naivem Verständnis für Islamisten – doch überflüssig ist das Aufbegehren keineswegs. Ernst zu nehmende Sorgen gibt es reichlich. Nur einige Stichworte: Der in Teilen unfaire Handel der Industrienationen, das in Heiligendamm abwesende China eingeschlossen, mit den armen Ländern, vor allem in Afrika, zementiert Unterentwicklung, Massenarmut und die Macht korrupter Eliten. Unter den Gefahren des vor allem von den Industriestaaten zu verantwortenden Klimawandels werden die Entwicklungsländer am meisten zu leiden haben. Und: Der Irakkrieg, von US-Präsident George Bush und dem britischen Premier Tony Blair mit falschen Behauptungen angezettelt, hat verheerende politische und humanitäre Folgen. Dass sich Deutschland und Frankreich der Invasion verweigert haben, kann die Gegner des G-8-Gipfels kaum besänftigen.

Es gibt viele gute schlimme Gründe, in Rostock und vor dem Zaun um Heiligendamm Unmut zu äußern – und das auch ziemlich laut. Die G-8-Gegner haben sogar die Chance, ein neues Kapitel deutscher Protestgeschichte zu beginnen. In der Tradition der Friedensbewegung und der unzähligen friedlichen Gegner der Atomkraft. Ein neues Kapitel – an einem historischen Datum. Der 2. Juni, an dem sich in Rostock mutmaßlich Zehntausende versammeln werden, ist der 40. Jahrestag der Schüsse eines West-Berliner Polizisten auf den Studenten Benno Ohnesorg. Sein Tod war die Initialzündung für die Studentenrevolte, die in den „langen Marsch“ vieler Linker durch die Institutionen mündete – und in die mörderische Radikalisierung eines Teils der Szene in Richtung Terror. Um sie zu rechtfertigen, wählte eine Gruppe sogar den Namen „Bewegung 2. Juni“, als Reflex ihrer Empörung über den „Polizeistaat BRD“, der sich angeblich in den Schüssen auf Ohnesorg manifestiert hatte. Ein Irrtum – und Geschichte von gestern. Doch was bewegt sich nun am 2. Juni in Rostock, 40 Jahre nach der Zäsur in der Historie der westdeutschen Linken? Und knapp 18 Jahre nach den ersten Massenprotesten in Ostdeutschland, die den Untergang des SED-Regimes einläuteten?

Vermutlich wird Rostock am 2. Juni eine der größten Demonstrationen erleben, die es in einer Stadt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR seit der Wende gegeben hat. Vielleicht werden sogar mehr Menschen mitlaufen als vor drei Jahren bei den größten Montagsdemos gegen Hartz IV. Die schiere Masse wäre schon ein Signal für die Kraft des Protests. Und er wird bis zum 9. Juni, dem letzten Tag des G-8-Gipfels, fortgesetzt – rings um Heiligendamm. Aber welches Bild wird in den Medien dominieren und später in den Geschichtsbüchern das Aufbegehren symbolisieren? Ein Foto wie das von den Ausschreitungen beim G-8-Gipfel in Genua 2001, als der von einem Carabiniere erschossene Demonstrant Carlo Giuliani in seinem Blut auf der Straße lag? Oder wird die bunte Unruhe der vielen friedlichen Globalisierungsskeptiker und -gegner von Attac über Gewerkschaften und Kirchengruppen bis zu Grünen und Linkspartei die Erinnerung prägen?

Der Kampf um die Bilder erscheint unausweichlich. Radikale Linke propagieren die Schlacht gegen den Kapitalismus, zu schlagen am martialischen Zaun um Heiligendamm. Der in seiner Scheußlichkeit wie eine Selffulfilling Prophecy wirkt – Stahlstreben und Stacheldraht ziehen mit ihrer düsteren Ästhetik magisch militante Schwarzjacken an. Andererseits hätte der Verzicht auf den Zaun die extreme Linke gewiss nicht friedlich gestimmt. Die Parolen sind eindeutig: Das Netzwerk „Dissent!“ präsentiert auf seiner Homepage einen Aufruf zum „symbolischen und praktischen Bruch mit der herrschenden Ordnung“. Empfohlen wird „eine gut platzierte Scherbendemo“. Das „Anti-G8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive“ zitiert in einem „Beitrag zur Debatte über den Umgang mit der Gewalt“ die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, attestiert dem Staat Willkür und schiebt ihm schon mal die Schuld für Krawalle zu: „Für alle sich aus der Willkür entwickelnden Konsequenzen sind nicht diejenigen verantwortlich, die diese Willkür beenden wollen, sondern diejenigen, die diese Willkür errichten und exekutieren.“

Andere Gruppen führen den Kampf um die Bilder noch härter. Seit Juli 2005 werden vor allem Fahrzeuge von Firmen, Managern und Politikern in Brand gesetzt. Meist folgen krude Bekennerschreiben. Die für mehrere Anschläge verantwortliche „militante gruppe“ beendet jede „Erklärung“ mit der Parole „für den Kommunismus!“ Und der Feierabendterror nimmt noch zu. Beinahe täglich brennen in Berlin teure Pkws, ob aus Protest gegen den G-8-Gipfel oder zur Belustigung junglinker Abenteurer ist kaum noch zu erkennen. Auch die Großrazzia der Bundesanwaltschaft hat die Militanz nicht gebremst. Die extreme Linke scheint im Kampf um die Bilder vorne zu liegen. Und sie könnte ihn sogar gewinnen, sollte in Rostock oder am Zaun schwere Randale gelingen.

Dann wäre die überwältigende Mehrheit der friedlichen G-8-Kritiker als Statisten düpiert.

So wird der 40. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg ein Test für die politische Reife der gemäßigten Globalisierungsgegner und nicht-extremistischen Linken. Es liegt nicht nur an der Polizei, sondern auch an ihnen, was passiert: Geschichte wird gemacht, es geht voran – in die Kurve rückwärts zu „Revolution“ und „Kommunismus“? Das werden die meisten G-8-Gegner nicht wollen. Doch wissen sie auch, was auf dem Spiel steht? Wenn krawallsüchtige Autonome wie Fische im Wasser der Friedfertigen agieren können – angreifen, zurücktauchen, angreifen?

Nicht nur die Glaubwürdigkeit des Protests wird durch linksextreme Militanz gefährdet. Vertan wäre auch die Chance, eine erneuerte, wache Linke symbolträchtig vom 2. Juni an in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Vielerorts gibt es die erneuerte Linke ja schon, in Bürgerinitiativen gegen Rechtsextremismus, bei Menschenrechtsaktivisten von Amnesty International und vieler anderer NGOs, in kirchlichen Dritte-Welt-Gruppen, in den Gewerkschaften, unter sozial engagierten Mitgliedern der großen Parteien – bis hin zum ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, der mit dem Eintritt bei Attac sein Engagement für eine humane Globalisierung hübsch unkonventionell bekräftigt hat.

Gewaltfreie, nicht-extremistische Linke müssen sich von den „Revolutionären“ absetzen. Um der Glaubwürdigkeit einer erneuerten Linken und um deren Zukunft willen. In Rostock und vor Heiligendamm könnte diese bunte Opposition durch das kollektive Protesterlebnis zu einem gewichtigen gesellschaftlichen Akteur zusammenwachsen – dem man das Engagement für soziale Gerechtigkeit abnimmt, weil er den Grundrechtekatalog der Demokratie achtet und totalitäre Fantasien strikt ächtet.

„Revolution“ und „Kommunismus“, das ist eine zentrale Lehre der Geschichte, haben der Nachkriegslinken schwer geschadet. Das SED-Regime und die RAF, in den 80er Jahren sogar verbändelt, verkörpern auf ewig das Scheitern der deutschen Modelle totalitärer linker Ideologie. Diese Erkenntnis müsste Allgemeingut sein – umso mehr irritiert, dass tausende junge Linke einen uneinsichtigen Ex-Terroristen beklatschen, wie jüngst bei der „Revolutionären 1.Mai-Demo“ in Kreuzberg. Und die Linkspartei/PDS muss sich fragen lassen, wie die oft beschworene Abkehr von der SED-Tradition zu vereinbaren ist mit Sympathien für das „sozialistische Kuba“. Dort sind die bürgerlichen Grundrechte Fremdworte. Freie Wahlen, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, eine unabhängige Justiz, um nur einige Errungenschaften der Demokratie zu nennen, gibt es auf Kuba nicht. Es ergibt auch keinen Sinn, die wenigen Erfolge des Regimes, vor allem im Gesundheitswesen, aufzurechnen. Kuba ist ein antidemokratischer Staat, umflort von einem lächerlichen Personenkult um den „Maximo Lider“. Schon beim Begriff „größter Führer“ müsste es gerade deutsche Linke frösteln. Vergessen macht sich breit, es geht voran?

Was die Autonomen zu bieten haben, die „herrschaftsfreie Gesellschaft“, bleibt eine diffuse Vision. Außerdem nähren brachiale Sprache und militante Praxis den Verdacht, es werde eine Herrschaft angestrebt, die Kritiker mundtot macht. Und es bleibt offen, wie die komplexen Wirtschaftsbeziehungen schon auf regionaler Ebene, erst recht global, nach der Abschaffung des Kapitalismus „autonom“ umstrukturiert werden sollten. Eine kleinteilige Wirtschaft „freier Produzenten“ würde wohl das Massenelend in Teilen der Dritten Welt nicht lindern, sondern noch um eine rapide Verarmung der Industriestaaten ergänzen.

„Armut für alle“ dürfte jedoch für viele Globalisierungskritiker kein erstrebenswertes Ziel sein. Dann sollten sie es den Hardcore-Linken auch deutlich sagen. Anfang Juni ist die Gelegenheit günstig.

Dass die marxistisch-leninistischen Strategien zukunftsunfähig sind, wie die autonomen auch, reduziert keineswegs die Notwendigkeit einer erneuerten, wachen Linken. Nicht nur wegen der weltumspannenden Ungerechtigkeiten. Es geht auch um den Widerstand hier und jetzt gegen neoliberale Zumutungen. Das Ringen der SPD um einen Mindestlohn und der Streik der Telekom-Beschäftigten, die sich gegen lohnraubendes Outsourcing wehren, sind wirksamer „links“ als alle revolutionäre Propaganda. Denn sie verkennt ein Grundprinzip, das spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unumkehrbar erscheint: Nur der Kapitalismus kann den Kapitalismus abschaffen. Der Kampf für mehr Gerechtigkeit kann nirgendwo anders gewonnen werden als im Kapitalismus. Alles andere ist Gerede fürs Weltall.

Und Munition für die Propaganda der NPD. Haben die revolutionären Linken jemals substanziell reflektiert, warum ihre Parolen leichte Beute für Neonazis werden? Die rechte Szene kann sich beispielsweise mühelos beim „linken“ Antiamerikanismus bedienen. „USA - internationale Völkermordzentrale“, schallt es gleichermaßen auf linken wie rechten Demonstrationen. Aber das Ärgernis ist noch größer. Die Fundamentalopposition der extremistischen Linken „gegen den Kapitalismus“ trifft sich, trotz seiner internationalistischen Stoßrichtung, mit dem völkisch grundierten „Kampf gegen das System“, den die NPD propagiert – in der gemeinsamen Verachtung für bürgerliche Grundrechte. Um Missverständnissen vorzubeugen: Rechts ist nicht gleich links. Aber die Extreme werden sich partiell ähnlich. Bis hin zur Machopose mit dunkler Sonnenbrille und schwarzer Kapuzenjacke.

Schluss mit dem Quatsch. Die wahren Linken von heute sind nicht Fidel Castro oder Untote wie Che Guevara, Mao, Lenin, Stalin, Trotzki, Bakunin, Marx. Dem bärtigen Karl muss allerdings attestiert werden, dass seine Gesellschaftsanalyse immer noch als Denkanstoß taugt, im Gegensatz zu seiner Proletarier-als-Diktatoren-Utopie. Aber die echten Linken heißen zum Beispiel Heiner Geißler und Al Gore. Angenommen, der grün angehauchte Amerikaner wäre doch US-Präsident geworden und in Heiligendamm die dominierende Figur des G-8-Gipfels, dann müsste es wohl auch einen Zaun geben – um den Jubel derselben Menschen einzudämmen, die ab kommendem Wochenende protestieren, oder?

Eine erneuerte, wache Linke könnte dem lächelnd zustimmen. In der Hoffnung, dass die Fehlfarben eines Tages dichten werden: Neue linke Helden regieren bald die Welt – es geht voran!

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