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Aufs Neue: Wach auf und träume

Neues Jahr, neues Glück, neues Spiel! Es sind die jetzt frischen Vorsätze und Wünsche, doch die Magie des Neuen ist selber ein alter Zauber. Der Tagesspiegel wünscht Ihnen, liebe Leserinnen, liebe Leser, ein frohes neues Jahr.

Die Menschheit braucht die Magie des Neuen von jeher. Denn ohne diesen Hauch des Neuen, der aus der Vergangenheit in die Zukunft weht, existierte auch keine Hoffnung. Auf Änderung. Oder Bewahrung. Gerade auf einem bis an die Grenzen der natürlichen Erneuerung ausgeschlachteten Planeten wächst die Sehnsucht, das noch Vorhandene und überhaupt ein paar alte, letzte Sicherheiten zu erhalten.

Ein Optimist wünscht, dass im neuen Jahr vieles noch viel besser läuft; der Pessimist wünscht, dass nicht alles noch viel schlechter wird – und der Realist?

Eric Hobsbawm, der weise britisch- kosmopolitische Sozialhistoriker, hat das 20. Jahrhundert als Ära der Extreme beschrieben: zuerst die ärgsten Schrecken, am Ende ein vergleichsweise glücklicher Ausgang. Ähnliches ließe sich wohl von der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts sagen: nach dem 11. September, zwei Bush-Kriegen und der globalen Finanzkrise nun immerhin Obama, Abrüstungsschritte, Konjunkturerholung. Trotz aller sonstigen Kriegs- und Krisenherde.

Auch die Deutschen, die ja nicht als geborene Optimisten gelten, können mit dem alten Jahr eigentlich zufrieden sein. Die Wirtschaft, der Fußball, die Siege auf Auto- und Skipisten, die kulturelle Ausstrahlung nicht nur Berlins. Wenig Grund zu meckern, trotz allem Trotz.

Das Vertrackte an den guten Wünschen für Neues und noch Besseres ist indes, dass heute fast alles mit allem so logisch wie widersprüchlich zusammenhängt und es nirgends mehr eine glatte, klare Bilanz gibt. Weder ökonomisch noch ökologisch, weder politisch noch moralisch. Nehmen wir nur den neuen Berlin-Brandenburger Großflughafen BBI: Den braucht die Hauptstadt und mit ihr die Region ganz dringend. Es gibt für mehr Jobs, Prosperität und soziale Entwicklung kein vergleichbares Projekt.

Auch die spät wiederentdeckte Fluglärmfrage erscheint da gegenüber dem Gemeinwohlinteresse von Millionen Menschen ziemlich nachrangig. Aber so sehr man sich diesen Großflughafen wünschen muss (und so gerne man selber abhebt in alle Welt), so schlecht für das Klima und die Kraftstoffressourcen ist es, heute überhaupt noch das Fliegen zu fordern und zu fördern. Ein Dilemma, wie es inzwischen fast jegliches industrielle und technologische Wachstum bedeutet. Die westöstliche Wohlstandszivilisation rast in die Zukunft, die Zukunft aber ist eine Wand, und man müsste nicht nur die Bremsen erneuern, sondern in voller Fahrt den Motor wechseln. Auch das ist das Neue. Als globale Herausforderung.

Die Welt ist kein Sport, es gilt nicht mehr das ewige Schneller, Höher, Weiter. Das verdrängen viele noch und wollen nicht sehen: Die Neuzeit ist selber zeitalt, ein Zeitalter, und das Wort „modern“ verkehrt sich ganz schnell, wenn man’s auf der ersten Silbe betont. Und doch leben die Veränderungswünsche weiter, sind überlebenswichtig. Obschon so viele Träume vom Neuen, vom neuen Menschen, der neuen Philosophie, der neuen Ökonomie verzischt sind wie das Silvesterfeuerwerk, der hoffende Mensch bleibt ein Gedankenspieler, ein Träumer der Tat – auch nach dem Erwachen.

Sage kein Schläfer jetzt, es sei nur ein Traum: dass bis zum Ende dieses neuen Jahrzehnts im Nahen Osten ein Vernunftfrieden herrscht, dass im Iran die Mehrheit der jungen Frauen die Macht der alten Mullahs bricht, dass ein Liu Xiaobo mal zum Nelson Mandela Chinas wird.

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