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Jesus war ein Kind der freien „Mittelschicht“, sagt Gert G. Wagner.

© Reuters

Aussterbender Mittelstand: Debatten um die Zukunft der Mittelschicht helfen nicht weiter

Auch Jesus war Mittelschicht - sie hat also zumindest 2000 Jahre überlebt. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sicher, sagt der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Gert G. Wagner, muss sich die Politik eher um andere Fragen kümmern.

Vor gut 2000 Jahren wurde Jesus Christus geboren. Er war kein Kind aus der Oberschicht, aber er war auch kein Kind aus der Unterschicht – obwohl er in einem Stall zur Welt kam –, sondern das Kind eines Handwerkers, der Steuern zahlen musste (und deswegen nach Bethlehem reiste, wo offenbar die Steuern eingetrieben wurden). Jesus war also ein Kind der freien „Mittelschicht“: Sein sozialer Vater war weder Adeliger, Priester oder Militär noch Handlanger oder Sklave. Damals war diese Mittelschicht die tragende Säule der Gesellschaft. Angehörige der Mitte waren von ihren Fähigkeiten her und bezüglich der Steuerzahlung unersetzbar. Das ist auch in modernen Gesellschaften der Fall – umso mehr erschrickt die Öffentlichkeit, wenn Statistiken veröffentlicht werden, die angeblich beweisen, dass die Mittelschicht ausstirbt.

Kurz vor Weihnachten haben drei Studien zur Verwirrung beigetragen. Einmal schrumpft die Mittelschicht (Bertelsmann-Studie); zweimal bleibt sie mehr oder weniger unverändert (IW Köln und Konrad-Adenauer-Stiftung). Die Erklärung ist einfach: Es wird mit unterschiedlichen Definitionen gearbeitet. Im Falle der Bertelsmann-Stiftung gibt es sogar zwei Mitten: neben der Einkommens- Mitte (die schrumpft) die soziologische Mitte (die nicht schrumpft).

Der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Gert G. Wagner.
Der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Gert G. Wagner.

© DIW

Die Einkommens-Mitte ist eine sehr abstrakte Konstruktion. Dieser Mitte liegen „bedarfsgewichtete“ Haushaltsnettoeinkommen zugrunde, die zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens liegen. Aber dass man mit dem Anderthalbfachen des Durchschnittseinkommens – etwa als doppelverdienendes Studienratsehepaar – bereits zur sozialen Oberschicht gehört, die Macht und Einfluss hat, ist lebensweltlich völlig unplausibel. Studenten, die aus einem gutsituierten Elternhaus kommen und später gut verdienen werden, werden wegen eines niedrigen Einkommens während des Studiums zur Einkommens-Unterschicht gezählt. Das hat mit sozialer Wirklichkeit wenig zu tun.

Für Deutschland gilt: Seit der Jahrtausendwende hat die Einkommens-Ungleichheit fraglos zugenommen, aber seit etwa 2005 ist das Ausmaß an Ungleichheit nicht mehr systematisch gewachsen, auch nicht die Einkommensarmut am unteren Rand. Von einem besorgniserregenden Schrumpfen der Mittelschicht zu reden, ist wenig plausibel. Dies gilt erst recht, wenn man sich soziologische Merkmale wie Bildung oder die soziale Selbsteinschätzung anschaut.

Statt Zeit mit dem unscharfen Mittelschicht-Begriff zu verschwenden, sollte man sich unsere Gesellschaft im Detail anschauen. Dann entdeckt man die wirklichen Probleme und denkbare Ansatzpunkte. So kann zum Beispiel die Ungleichheit der Einkommen durch eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen verringert werden. Dafür braucht es eine politische Mehrheit – und keine feuilletonistischen Diskussionen um die „Mittelschicht“.

Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt ist auch nicht durch ein vermeintlich häufigeres Abrutschen der mittleren Schichten der Bevölkerung in Hartz IV gefährdet, sondern – ebenso banal wie gefährlich – durch das Nachwachsen vieler unqualifizierter junger Leute. Das liegt daran, dass es dem Bildungswesen in Deutschland noch immer schwerfällt, die Kinder von Zuwanderern ordentlich und chancengerecht zu bilden und auszubilden. Hier sind bessere Schulen und kurzfristig kommunale Angebote, die Bildung nachholen helfen und Integration fördern, gefragt. Darum müssen wir uns kümmern – und nicht um die vermeintlich schrumpfende Mittelschicht.

Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

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