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Auswanderung: Der dumme Rest bleibt

Erstmals seit 25 Jahren gibt es in Deutschland mehr Abwanderung als Zuzug – doch nicht nur das alarmiert.

Höchste Zeit für eine kleine Erinnerung. Denn in zwei Monaten feiert er seinen 95. Geburtstag. In Berlin war er zur Welt gekommen, hatte am Französischen Gymnasium sein Abitur abgelegt und an der Berliner Universität Wirtschaftswissenschaften studiert. Im April 1933 floh er aus Deutschland, kämpfte in Spanien und Frankreich gegen die Nazis. Nach dem Krieg ließ sich der gelehrte Grenzgänger in den USA nieder, die akademische Laufbahn beendete Albert O. Hirschman in Princeton.

Sein wichtigstes Werk kam 1970 heraus und heißt „Exit, Voice and Loyalty“ („Abwanderung und Widerspruch“). Darin analysiert Hirschman, was in einem Unternehmen geschieht, dessen Qualität oder Nutzen für die Mitarbeiter abnimmt. Die beiden Hauptreaktionsformen sind „exit“ – die Beziehung zum Betrieb wird abgebrochen – und „voice“ – durch Protest wird eine Verbesserung angestrebt. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer wurde dieses Instrumentarium auch auf die Spätphase der DDR angewendet. Hirschman konnte eindrucksvoll zeigen, wie sich „exit“ (Auswanderung) und „voice“ (Montagsdemonstrationen) in ihrer Wirkung wechselseitig verstärkten, bis das System schließlich kollabierte.

Jeder Vergleich der späten DDR mit der Bundesrepublik im Jahre 2010 verbietet sich. Dennoch sollten drei Befunde alarmieren. Erstens: Das Geburtendefizit in Deutschland, also die Zahl der neugeborenen Kinder minus die der Sterbefälle, ist auf dem höchsten Stand seit 1976, die Bevölkerungszahl wird trotz Krippenplatzausbau und Elterngeld stetig kleiner.

Zweitens: Erstmals seit 25 Jahren gibt es in Deutschland mehr Abwanderung als Zuzug. 175 000 Bundesbürger verließen Deutschland im Jahr 2008, das ist der höchste Stand seit den frühen 50er Jahren. Drittens: Seit den letzten Jahren in der Amtszeit von Helmut Kohl, etwa gegen Mitte der neunziger Jahre, beschleicht den Normaldeutschen das Gefühl, dass es egal ist, wer regiert. Ob Schwarz-Gelb, Rot-Grün, Schwarz-Rot oder wieder Schwarz-Gelb: Mit Ausnahme der Agenda 2010 traut sich keine Regierung an echte Reformen heran. Ob hohe Steuerlast, hohe Staatsverschuldung, hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Geburtenrate, steigende Sozialabgaben, Bürokratisierung: In den vergangenen 15 Jahren haben sich die gesellschaftspolitisch entscheidenden Daten im Land kaum verändert. Die Beteiligung an Wahlen nimmt auch deswegen ab. Es schwindet die Hoffnung auf Besserung.

Wenn der Faktor „voice“ gewissermaßen ins Leere läuft, gewinnt der Faktor „exit“ an Bedeutung. Das Land schrumpft sich langsam krank. Und nicht nur, dass es oft gut ausgebildete Fachkräfte sind, die ihr Glück woanders versuchen, also junge Menschen mit Initiative, Tatkraft und Wagemut, nein, auch jene vielen Milliarden Euro Steuereinnahmen, die durch sie verloren gehen, müssen von den Daheimgebliebenen extra aufgebracht werden. Sie sind der dumme Rest, der sich folglich ebenfalls überlegt, sein Heil im Ausland zu suchen. Jeder Fortzug beschleunigt die Fortzugsspirale.

Jenseits aller Hotelmehrwertsteuereien und Kopfpauschaldebatten wird sich die Regierung von Angela Merkel daher einst an einer einzigen einfachen Frage messen lassen müssen: Hat sie dafür gesorgt, dass noch genügend Menschen in Deutschland leben, arbeiten und eine Familie gründen wollen? Nur wenn ihr das gelingt, ist sie dem Mandat, regieren zu dürfen, gerecht geworden. Alles andere ist alles andere.

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