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Meinung: Bäume lügen nicht

Wie misst man die öffentliche Gefahr durch instabile Stämme?

Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Claus Mattheck sagt es am liebsten einfach. Deshalb erfand der Professor und Leiter der Abteilung Biomechanik am Forschungszentrum Karlsruhe Stupsi, den knuffigen Igel mit der Ledermütze, der in Kindersprache die Geheimnisse des Baumes erklärt: „Wenn ein schiefer Baum immer schiefer wird, dann platzt ihm auf seiner oberen Seite die Rinde ab … Manchmal ist die Oberseite ganz nackig … Solche Bäume können umfallen, man darf dann nicht mehr unter ihnen spielen.“

Das fanden wohl auch Matthecks wissenschaftliche Kollegen zunächst drollig, obwohl viele seine eigenwillige Methode zur Abschätzung der Baumstabilität ablehnen. Doch als der exzentrische Außenseiter nun den mit 500 000 Euro höchstdotierten europäischen Umweltpreis erhalten sollte, war für einige Fachleute der Spaß vorbei. Angeführt vom renommierten Stuttgarter Baumstatiker Lothar Wessolly, kritisierten sie die Auszeichnung als „Blamage ersten Ranges“.

Hintergrund der ungewöhnlichen Rangelei unter Professoren ist die Frage, wann ein geschädigter Baum zur Gefahr für die Öffentlichkeit wird. Streng wissenschaftliche Gutachter berechnen die Statik wie bei einem Hochhaus oder einer Brücke: Wenn der Wind die Baumkrone biegt, werden die Fasern auf einer Seite des Stammes gedehnt und auf der anderen gestaucht. Um die Bruchgefahr vorherzusagen, biegen Baumstatiker wie Wessolly die Baumkrone und messen dabei die Dehnung der Holzfasern mit einem auf der Rinde angebrachten „Elastometer“. Dann wird durch fotografische Vermessung der Luftwiderstand geschätzt und die resultierende Kraft auf Windstärke 12 hochgerechnet. Wird dabei die Belastbarkeit überschritten, gilt der Baum als bruchgefährdet.

Umwelt-Preisträger Mattheck verlässt sich auf sein Auge und ein paar einfache Messungen. Er ist überzeugt, dass Bäume eine besondere „Körpersprache“ haben, die ihren Gesundheitszustand verrät: Bei Belastung reagieren sie dort, wo die stärksten Kräfte auftreten, durch Verdickung der Wandschichten des Stammes. Deshalb muss nach seiner „VTA-Methode“ („Visual Tree Assessment“) nur das Verhältnis von Wandstärke und Umfang des Stammes bestimmt werden, um gefährdete Bäume zu erkennen.

Dem widersprechen die Kritiker des Quereinsteigers, der theoretische Physik studierte, nach einem Fluchtversuch zwei Jahre im DDR-Gefängnis verbrachte und auch schon mal Arbeiten zum Blutkreislauf der Plazenta veröffentlichte. Dass ein Baum sich an alle möglichen Windrichtungen eines Orkans im Voraus anpasst, ist in der Tat schwer vorstellbar. Zudem muss der Stamm angebohrt werden, um die Wandstärke zu bestimmen. Dadurch wird das Eindringen von Pilzen gefördert – der häufigste Grund für Instabilität. Schließlich werden bei der VTA-Methode die Art des Baumes und der Luftwiderstand der Krone nicht berücksichtigt. Nach Matthecks ganzheitlichem Ansatz ist dies nicht nötig, da Bäume bei Starkwind „die Ohren anlegen“, um den Luftwiderstand zu verringern, und mit ihrer Stammdicke einen einheitlichen „Sicherheitsfaktor“ gegen Bruchbelastung einstellen; der soll die gleiche Größenordnung wie bei Knochen (4,5) haben. Ob das stimmt, werden die Bäume nicht verraten. Schade, denn Igel Stupsi weiß: „Bäume lügen nicht!“

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle-Wittenberg. Foto: Jacqueline Peyer

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