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"Das ist mein Haus", sagt US-Präsident Barack Obama bei einer Rede am Mittwoch im Weißen Haus zu einem Zwischenrufer. Dann muss der Mann den Saal verlassen. Hier ein Screenshot eines Videos von dem Vorfall.

© Youtube

Obamas Erbe: Beginn einer Kontur

Was die vergangene Woche über Amerika lehrt: Barack Obama hat seine Stimme wiedergefunden. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Sie sind selten, aber es gibt sie: Momente von inspirierender Kraft für eine Nation, mächtiger als Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und im religiösen Sinne auch mächtiger als der Tod. Denn sie überwinden Angst und Hass. Sie jagen denen, die sie miterleben – und auch denen, die sie später am Bildschirm nur nacherleben – Schauer über den Rücken. Sie bringen Zyniker zum Verstummen.

Ein solcher Moment ereignete sich am Freitag in Charleston. Neun Tage zuvor hatte ein junger weißer Rassist dort neun Afroamerikaner bei einer Gebetsstunde ermordet. In Deutschland hatten das manche auch dem Präsidenten angelastet. Barack Obama sei mit seinem Versprechen, Amerika mit sich selbst zu versöhnen, gescheitert. Aus „Yes, he can“ sei „No, he can’t“ geworden. Das Massaker zeige, dass der Rassismus lebendig bleibe. Jungen Schwarzen gehe es heute kaum besser als bei Obamas Amtsantritt 2009. Die ökonomische Spaltung der Gesellschaft wachse, statt sich zu verringern.

Das Vorzeigeprojekt der Obama-Präsidentschaft hat Bestand

Dann stimmte Obama am Freitag nach einer bewegenden Traueransprache „Amazing Grace“ an: die Hymne, die unzähligen Generationen von Sklaven Hoffnung und Lebensmut gegeben hatte. Das Lied, in dem das weiße wie das schwarze Amerika in den Tagen nach dem Terrorangriff von 9/11 Zuflucht fand und das auch deutsche Sender damals immer wieder spielten. Wer hörte, wie Obama zunächst mit einsamer Stimme die Melodie ertastete, wie dann Tausende einfielen und das Lied zu einer großen, starken Botschaft anschwellen ließen, der spürte: Er hat seine Stimme wiedergefunden. Und seiner Nation geholfen, ihren Kompass wiederzufinden.

Auch in Deutschland reagieren viele, die zunächst ihrer Enttäuschung über Obama freien Lauf gelassen hatten, ergriffen. Nun wäre es übertrieben, aus einem Gottesdienst, der die Herzen höher schlagen ließ, ein auftrumpfendes „Yes, he can!“ abzuleiten. Die Waffengesetze gelten unverändert. Sie haben unzählige Massaker in Schulen, Kinos und Shoppingmalls ermöglicht. Aber die Konföderiertenflagge wird nun von öffentlichen Gebäuden verbannt. Dass der Mörder nicht einmal vor einer Kirche halt machte, hat auch Republikaner zur Umkehr bewegt.

Das Bild einer die Parteigrenzen überwindenden Nachdenklichkeit zeigten die USA in der vergangenen Woche auf mehreren Feldern. Nach wochenlangen Verhandlungen bekam Obama die sogenannte „Trade Promotion Authority“ (TPA): die Vollmacht, die es ihm erlaubt, Freihandelsabkommen auszuverhandeln, samt der Selbstbescheidung des Parlaments, am Ende den Vertrag nur komplett annehmen oder in Gänze ablehnen zu dürfen. Der Gewerkschaftsflügel der Demokraten wollte Obama die Vollmacht verweigern. Dessen Bedenken richten sie gegen die pazifische Wirtschaftspartnerschaft TPP mit Asien, nicht gegen das hierzulande umstrittene atlantische Abkommen TTIP. Dagegen rührt sich in den USA kein nennenswerter Widerstand. Das nationale Interesse an der ökonomischen Kooperation wiegt aus Sicht der Republikaner so schwer, dass sie Obama ihre Stimmen liehen. Sie machten eine Ausnahme von der generellen Strategie, ihm keine Erfolge zu gönnen.

Arbeit ist die beste Prävention

Am Donnerstag folgte die Entscheidung des Supreme Court, dass die zentralen Bestimmungen der Gesundheitsreform verfassungsgemäß sind. Das Vorzeigeprojekt der Obama-Präsidentschaft hat Bestand. Zwei konservative Verfassungsrichter schlossen sich dem Urteil ihrer vier liberalen Kollegen an. Tags drauf erteilten die Obersten Richter auch der Homoehe den verfassungsrechtlichen Segen, erneut mit konservativer Unterstützung für den liberalen Flügel des Gerichts.

Die Woche lehrt dreierlei: Ob Amerika stillsteht oder voranschreitet, hängt nicht von einer Person an der Spitze allein ab. Die USA sind ja keine Diktatur, wo eine(r) bestimmt, wo es langgeht, sondern eine Demokratie, in der alle Verantwortung für das gemeinsame Ganze tragen müssen.

Zweitens nimmt Kontur an, was als Obamas Erbe bleibt: die Gesundheitsreform, mehr Rechte für Homosexuelle, vom Militär bis zur gleichgeschlechtlichen Ehe, mehr Diversität im Verfassungsgericht, dem dank Obama zwei neue Frauen angehören, darunter die erste Latina. Drittens sind auch die Schwarzen nicht schlechter dran als bei seinem Amtsantritt. Das größte Hindernis für ihre volle Partizipation ist die fehlende ökonomische Chancengleichheit. Obama hatte 2009 ein Land in schwerster Krise übernommen, in dem sich die allgemeine Arbeitslosenrate verdoppelte, die unter Schwarzen verdreifachte. Die Krise ist überwunden, der Aufschwung kommt gerade auch ihnen zugute. Arbeit, von der man würdig leben kann, ist die beste Prävention, egal welcher Hautfarbe die Gewalttäter sind.

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