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Brief an die EU: Finanzmärkte dürfen uns nicht regieren

Mehr als ein Dutzend ehemals führende Staatsmänner Europas haben einen offenen Brief an die EU geschrieben. Sie fordern die Einberufung einer Weltfinanzkonferenz, um Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte zu beschließen. Wir dokumentieren den Brief in einer leicht gekürzten Fassung.

Mehr als ein Dutzend ehemals führende Staatsmänner Europas haben einen offenen Brief an den Präsidenten der EU-Kommission, José Barroso, den Präsidenten der Republik Slowenien, Danilo Türk, als amtierenden Ratspräsidenten der EU, sowie an den französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy als kommendem Ratspräsidenten der EU geschrieben. Sie fordern die Einberufung einer Weltfinanzkonferenz, um Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte zu beschließen. Wir dokumentieren den Brief in einer leicht gekürzten Fassung.

Sehr geehrter Herr Präsident, die Finanzmärkte dürfen uns nicht regieren!

Die gegenwärtige Finanzkrise ist kein Zufall. Es war nicht, wie einige führende Personen in der Finanz und der Politik jetzt behaupten, unmöglich, sie vorherzusagen. Für weitsichtige Individuen hatten die Alarmglocken schon vor Jahren geläutet. Diese Krise ist eine Krise schlecht oder gar nicht regulierter Märkte, und sie zeigt uns erneut, dass der Finanzmarkt unfähig zur „Selbstregulierung“ ist. Sie erinnert uns an die besorgniserregend eskalierenden Einkommensdiskrepanzen in unseren Gesellschaften und stellt unsere Fähigkeit zum glaubhaften Dialog mit den Entwicklungsländern über globale Herausforderungen ernsthaft infrage.

Die Finanzmärkte sind zunehmend undurchsichtig geworden, und es ist oft eine nahezu unmögliche Aufgabe, diejenigen zu identifizieren, die die Risiken einschätzen und tragen. Der nur leicht oder gar nicht regulierte „Schattenbankensektor“ ist in den letzten zwanzig Jahren beständig angewachsen. Große Banken verwickelten sich in das Geschäft der „Erzeugung und Veräußerung“ von hochkomplexen Finanzinstrumenten und in die fragwürdige Bündelung und den Weiterverkauf von Schulden, die an hochriskante Hypotheken gebunden waren. Unzureichende Anreizsysteme, kurzfristiges Denken und eklatante Interessenkonflikte haben den spekulativen Handel gesteigert.

Zweifelhafte Hypothekenkredite, fälschlicherweise auf der Idee begründet, dass endlose Immobilienpreissteigerungen die Schuldenrückzahlungen ermöglichen würden, sind bloß ein Symptom der Krise der Finanz- und Geschäftsführungspraktiken. Die drei führenden Ratingagenturen bewerteten skurrile Anlagen als „relativ risikofrei“. Eine Investmentbank machte Milliarden US-Dollar Profit, indem sie auf den Wertverlust von Subprime-Wertpapiere spekulierte, während sie eben diese ihren Kunden verkaufte, was den völligen Verlust von Geschäftsethik verdeutlicht.

Wir sind vor den Gefahren gewarnt worden. Alexander Lamfalussy und das Komitee der Weisen Männer unterstrichen in einem Bericht über die Europäischen Wertpapiermärkte (2001) den Zielkonflikt zwischen scheinbar höherer Effizienz und finanzieller Stabilität. Paul Volcker warnte ebenfalls seit Jahren, dass diese Krise im Anmarsch sei. Paul Krugman machte schon vor etwa zehn Jahren auf die Bedrohung aufmerksam, die von der Ausweitung der nichtregulierten Finanzdienstleister ausgehe. Im Jahre 2003 nannte Warren Buffett Finanzderivate „finanzielle Massenvernichtungswaffen“. (…)

Es scheint so, als wären die Wirtschaftsweisen der Welt schüchtern, wenn es um die Folgen einer solchen Krise für die Realwirtschaft geht. Fast alle Institutionen, die sich auf Vorhersagen konzentrieren, senken ihre Wachstumsprognosen für die Industrieländer in den Jahren 2008 und 2009. Keines erklärt jedoch, ob uns in Europa eine Rezession droht oder nicht. Manche Symptome können bereits so interpretiert werden, als deuteten sie darauf hin. Im Fall der Europäischen Union wäre eine Rezession in diesem oder im nächsten Jahr äußerst dramatisch!

Steigende Ungleichheit bei Löhnen ist bisher mit einem stets anwachsenden Finanzsektor einhergegangen. Wahrlich hat der technologische Fortschritt merklich zu steigenden Lohnunterschieden durch Begünstigung von höher qualifizierter Arbeit geführt. Fehlgeleitete politische Entscheidungen haben jedoch hierbei ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt. (…) Ironischerweise haben Gehälter und Zuschläge für Manager enorm hohe Summen erreicht, während die Leistung der jeweiligen Unternehmen stagniert oder gar nachgelassen hat. Dies ist eine schwerwiegende moralische Frage.

Freie Märkte dürfen die soziale Moral nicht außer Acht lassen. Adam Smith, der Vater der Laissez-faire-Wirtschaftspolitik, schrieb auch die „Theorie der ethischen Gefühle“, und Max Weber verband harte Arbeit mit moralischen Werten, zum Vorteil des Kapitalismus. Rechtschaffener Kapitalismus (der die Würde des Menschen respektiert, um es mit Amartya Sens Worten auszudrücken) benötigt eine effektive politische Umsetzung in der Öffentlichkeit. Das Gewinnstreben ist die Essenz einer Marktwirtschaft. Wenn jedoch alles zum Verkauf steht, lösen sich soziale Bindungen auf und das System bricht zusammen.

Die derzeitige Finanzkrise vermindert die Fähigkeit des Westens, mit dem Rest der Welt einen besseren Dialog über die globalen Herausforderungen zu führen, um die Auswirkungen der Globalisierung und der globalen Erwärmung anzugehen – und das zu einem Zeitpunkt, da der außergewöhnliche Wirtschaftsaufschwung Asiens neue, nie da gewesene Herausforderungen an uns stellt. Der spektakuläre Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise verstärkt noch die Folgen des Finanzchaos, und lässt Unheilvolles erahnen. Bezeichnenderweise sind Hedgefonds in das Aufblasen der Preise von Grundnahrungsmitteln verwickelt gewesen. Es sind die Einwohner der ärmsten Länder, die am meisten betroffen sein werden. Wir riskieren ungeahnte Armut, die Vermehrung von gescheiterten Staaten, Bevölkerungswanderung und bewaffnete Konflikte. (…)

Es ist an der Zeit, ein „Europäisches Krisenkomitee“ zu bilden, das aus hochrangigen Politikern, früheren Staats- und Regierungschefs oder Finanzministern und aus angesehenen Ökonomen und Finanzexperten aus allen Kontinenten besteht. Dieses Komitee soll die folgenden Aufgaben haben:

eine tiefgehende Analyse der Finanzkrise anzufertigen, die wir oben im größeren Zusammenhang zu skizzieren versuchten;

die sozialen und wirtschaftlichen Risiken zu beschreiben und einzuschätzen, die sich durch die Finanzkrise auf die Realwirtschaft auswirken;

dem Rat der EU eine Reihe von Maßnahmen vorzuschlagen, um diese Risiken zu vermeiden oder einzudämmen;

dem Ministerrat der EU, dem UN-Sicherheitsrat, dem Direktor des IWF und allen Institutionen und Organen, die es angeht, Vorschläge zu unterbreiten, um die Wirkung der Krise einzudämmen und eine Weltfinanzkonferenz einzuberufen, um die Regeln des internationalen Finanzwesens und die Steuerung globaler wirtschaftlicher Belange zu überdenken.

Im Jahr 2000 kamen wir überein, die Europäische Union in die wettbewerbsfähigste Region der Welt zu verwandeln. Dies haben wir 2005 bekräftigt. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas durch die Finanzmärkte nicht unterwandert, sondern gestützt wird. Wir müssen jetzt handeln: im Namen der Bürger unserer Länder, für mehr Investition, Wirtschaftswachstum, soziale Gerechtigkeit, Arbeitsmöglichkeiten, und alles in allem, eine bessere Zukunft für alle Europäer.

Jacques Delors, Jacques Santer, Helmut Schmidt, Otto Graf Lambsdorff, Lionel Jospin, Pär Nuder, Michel Rocard, Hans Eichel, Göran Persson, Daniel Daianu, Massimo d’Alema, Ruairi Quinn, Poul Nyrup Rasmussen, Eero Heinäluoma, Paavo Lipponen, Laurent Fabius.

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