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Meinung: BSE: Leitartikel: Das dünne Eis unter unseren Füßen

Die schwäbischen Romantiker (Uhland, Schwab, Hauff) liebten die Sage vom Ritt über den Bodensee: In frostklirrender Nacht will ein Reiter von Schwaben in die Schweiz. Er hofft, mit seinem Ross den See zu erreichen, um in einem Nachen über das "Schwäbische Meer" zu setzen.

Die schwäbischen Romantiker (Uhland, Schwab, Hauff) liebten die Sage vom Ritt über den Bodensee: In frostklirrender Nacht will ein Reiter von Schwaben in die Schweiz. Er hofft, mit seinem Ross den See zu erreichen, um in einem Nachen über das "Schwäbische Meer" zu setzen. Er reitet und reitet. Über eine lange, weiße, ebene Fläche. Es ist Nacht, der Wind heult. Endlich sieht er Lichter, menschliche Gehöfte. Da fragt er, wie weit er es zum See noch habe. Zum See? antworten die anderen verwundert. Den habe er eben hinter sich gelassen. Dem Reiter wird klar, dass er, über dünnes Eis, den See überquert hat, ohne die Gefahr zu ahnen. Er erstarrt, das Herz bricht ihm über den überstandenen Schrecken, von dem er nichts geahnt hatte.

Wir sind, was die Gefahren der neuen Seuchen betrifft, in der Situation des Reiters. Wir erfahren von den Gefahren, in denen wir schweben, oft erst im Nachhinein. Die Versuchs-Soldaten von Los Alamos, wo die ersten Atombomben-Versuche stattfanden, wurden mit Sonnenbrillen ausgerüstet, weil man noch nicht ahnte, welche Lebensgefahren die radioaktive Verstrahlung barg.

Aids war der Einbruch einer heimtückischen Seuche, deren Ansteckung man erlegen sein konnte, längst bevor man von ihrem Vorhandensein wusste. Ihre Heimtücke bestand auch in der langen Inkubationszeit. Die Mittel, herauszufinden, ob man krank sei, wurden erst nach der Zeit entdeckt, in der man sich angesteckt haben konnte. Auf die Heilmittel wartet man bis heute.

Und auch die unheimliche Zwangssituation, in die uns BSE bringt - oder zu bringen scheint -, gleicht einem Ritt über den Bodensee, wenn Ernährungswissenschaftler, Ärzte und Biologen uns zum Einen verdeutlichen, dass die Hauptgefahr für uns nicht das ist, was wir heute essen, sondern, was wir vor zehn Jahren gegessen haben, als BSE-Fleisch in hohen Mengen importiert wurde. Dass, zum Zweiten, immer neue Ursachen der Seuchen-Verbreitung entdeckt werden: neben Rindern Lämmer, neben Rindern der Massentierhaltung Tiere, die friedlich auf Almen grasen, vielleicht sogar Gemüse, das mit Abfällen aus Schlachthöfen gedüngt wurde.

Und dass, drittens - und das ist das beunruhigendste, weil scheinbar beruhigende Phänomen - BSE eine Seuche ist, für die es bis heute keine hundertprozentig nachweisbaren Opfer gibt. Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, wie dünn das Eis ist, das uns bisher getragen hat; wir wissen nicht, wann es bricht und auch nicht, ob es je bricht.

Angesichts dieses "Bodensees", dessen Gefahren, Tiefen, Tücken wir, immer noch mitten im bewusstlosen Ritt galoppierend, eher panisch bangen wollen als rational erkennen, fühlen wir uns ausgeliefert: der Schlamperei der Behörden, den Beschwichtigungen der Lobbies und Regierungen, der lauten Schuldzuweisung an andere.

Der britische Schriftsteller David Flusfeder hat angesichts dieser düsteren Wirrnis ein Erlebnis erzählt: Mitten in der Rinderwahnsinnspanik hätten Gäste einer Londoner Party vor Jahren trotz Verbot ein Schlemmeressen mit dem gefährlichen "Rindfleisch am Knochen" ("beef on the bone") zelebriert. Von den Gästen sei bis heute keiner erkrankt, nur die Frau des Gastgebers, eine überzeugte Vegetarierin und Kettenraucherin, die kein Fleisch gegessen habe, sei verstorben: an Lungenkrebs.

Eine makabre, eine zynische Geschichte? Sie handelt auch davon, wie unsere panischen Gefühle beim Ritt über den Bodensee von unseren Schuldgefühlen gespeist sind: Wir wissen, dass wir, wenn wir genießen, die Erde und uns zerstören.

Hellmuth Karasek

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