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Castor: Knatsch im Konsensland

Deutschland ist Konsensland und keine Krawallrepublik. In der Regel wird lange nach Lösungen gesucht und gerungen; dann trägt der Kompromiss. Bis auf Ausnahmen, etwa die Kernkraft, hat das auch gut funktioniert. Doch dieser Herbst ist anders. Angela Merkel sollte sich Sorgen machen.

Auf Wiedersehen 2011. Wenn sich wieder ein paar zehntausend Polizisten und Demonstranten im Wendland treffen. Seit 1995 geht das schon so, weil der Atommüll die Leute in Wallung bringt. Diesmal noch mehr als sonst, nachdem die Regierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert hat. Das Spektakel rund um den Castor- Transport kostet die Gesellschaft, uns Steuerzahler, in diesem Jahr womöglich 50 Millionen Euro. Damit ja nichts schiefgeht auf dem Weg zur Müllkippe, wird der radioaktive Dreck keine Sekunde von der Polizei aus den Augen gelassen. Ist ja auch ein ganz besonderer Stoff.

Die Kernenergie bringt den Atomkonzernen Milliarden, hält die Strompreise auf erträglichem Niveau und ist für das Klima um ein Vielfaches besser als etwa die Kohle. Akw laufen seit Jahrzehnten, und die Regierung hat entschieden, dass erst 2035 und nicht 2022 Schluss ist mit der gefährlichen Technologie. Neue Atomkraftwerke werden bei uns, anders als anderswo, aber nicht gebaut. Weil die Deutschen, so generalisierend darf man das sagen, die Kernenergie bestenfalls als Brücke in das grüne Zeitalter akzeptieren, in dem die alternativen Energien unser Industrieland zu akzeptablen Preis- und Umweltbedingungen versorgen. Bloß: Das dauert noch ein paar Jahre.

Und die Entwicklung dahin verläuft keineswegs geschmeidig. Es gibt zum Beispiel seit Jahren Widerstand gegen Windräder, weil die ja die Landschaft zerstören. Und wenn die Konzerne diese Windräder dann auf hoher See aufstellen, wo sie die Naturfreunde nicht ständig vor Augen haben, kommt das nächste Problem: Der Strom muss von der Küste in die Teile des Landes transportiert werden, wo er gebraucht wird. Dazu sind Leitungen erforderlich. Die Masten und Kabel sind meistens nicht schön, und so gibt es wieder Proteste. Die durchschnittliche Genehmigungszeit für Hochspannungsleitungen liegt bei rund zehn Jahren. Wir sind in Deutschland – und hier sind die Einwirkungs- und Klagemöglichkeiten der Bürger bei Infrastrukturprojekten nicht gering.

Wir leben aber auch in einem Industrieland, dessen leistungsstarke Wirtschaft dem überwiegenden Teil der Menschen ein ziemlich komfortables Leben ermöglicht. Auch weil Energie immer und überall verfügbar ist. Das lässt sich auch anders organisieren: Wir kaufen Atomstrom bei den Franzosen. Und für unseren Atommüll geben wir den Russen ein paar Milliarden, damit die das Zeug in Sibirien verbuddeln. Nichts wie weg damit. Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an. Und über allem steht sowieso der Profit.

Das ist nicht die Politik von Angela Merkel. Ihre neoliberale Phase – Leipziger Parteitag 2003 – hat die Bundeskanzlerin lange überwunden. Sie hat das Volk kennengelernt und dabei erfahren, wie wichtig Einvernehmen ist. Deutschland ist Konsensland und keine Krawallrepublik. In der Regel wird lange nach Lösungen gesucht und gerungen; dann trägt der Kompromiss. Bis auf Ausnahmen, etwa die Kernkraft, hat das auch gut funktioniert. Und diesen Herbst? Wenn biedere Schwaben wochenlang zur Montagsdemo gehen, ist der Zorn über die Politik wohl enorm. Dabei geht es um einen Bahnhof, nicht um das Ende eines Regimes oder wenigstens ein Atommülllager. Verrutschen uns die Maßstäbe, das Verständnis für Verhältnismäßigkeit? Reagieren die Menschen ihren Frust über die Regierenden im Protest ab? Das ist schlecht. Merkel sollte sich Sorgen machen. Nicht nur über den Castor.

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