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Demonstranten in Kairo.

© AFP

Chaos in Ägypten: Ein Land ohne Wir

Es gibt in Ägypten keine Kultur der Moderation und des Kompromisses. Wer zurücksteckt, gilt als schwach. Wer am Drücker ist, quetscht den anderen an die Wand. Und wehe, wenn sich – wie im Falle Mursis – der Spieß umdreht.

Der Arabische Frühling ist vorbei – zumindest in Ägypten. Seit das Militär vor sieben Wochen wieder die Macht übernommen hat, läuft das große Rollback. Ägyptens neue Führung nimmt wieder Maß an der alten Mubarak-Zeit, um eine Zukunft „Mubarak plus“ zu schaffen. Was jetzt in Ägypten passiert, ist keine Korrektur eines islamistischen Lenkfehlers auf den ersten Kilometern zur echten Demokratie, wie der Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei der Weltöffentlichkeit kürzlich weismachen wollte. Vielmehr werden in Ägypten die jahrzehntelangen tragenden Eckpfeiler des Machtgefüges, Armee und Polizei, neu befestigt und ausgebaut.

Für die ägyptischen Machthaber befindet sich das Land in einem Endkampf zwischen Licht und Dunkel

Zwei Narrative der ägyptischen Ereignisse haben sich inzwischen herausgebildet, die völlig parallel nebeneinander herlaufen: das innerägyptische und das ausländische. Für die neuen Machthaber und die sie stützende Öffentlichkeit befindet sich ihre Heimat in einem apokalyptischen Endkampf zwischen den Kräften des Lichts und den Kräften der Dunkelheit. Millionen Muslimbrüder werden pauschal als Terroristen diffamiert. Das Massaker von Polizei und Armee am Mittwoch mit über 600 Toten, das in der Geschichte der zivilen Welt zu den schrecklichsten Gewaltexzessen einer politischen Führung gegen das eigene Volk gehört, wird im chauvinistischen Kairoer Taumel einfach weggeblendet. Stattdessen wächst bei den neuen Mächtigen die Wut, dass außer dem saudischen König niemand auf dem Globus ihre Sicht der Dinge teilt. Gleichzeitig lässt man offen durchblicken, dass man das warnende Narrativ des Westens, Armee und politische Elite müssten der Muslimbruderschaft eine echte Beteiligung am künftigen Machtgeschehen anbieten, als lästiges Gerede nicht mehr hören kann.

Ägyptens politische Klasse kann nicht zwischen den Lagern moderieren

Dadurch aber wird die innere Polarisierung – entgegen aller Beteuerungen seiner Regierungsmitglieder – immer weiter zementiert. Denn Ägyptens politische Klasse verfügt nicht über die mentalen Ressourcen, Vertrauen zwischen den beiden verfeindeten Lagern aufzubauen und die gegenseitige Dämonisierung zum Wohl des gemeinsamen Landes zu beenden. Es gibt keine Kultur der Moderation, der Selbstbegrenzung und des Kompromisses. Wer zurücksteckt, verbreitet den Geruch von Schwäche. Wer Kompromisse eingeht, hat schon halb verloren. Denn Ägyptens politische Kultur begreift Machtbesitz allein als Nullsummenspiel. Wer am Drücker ist, quetscht den anderen an die Wand. Und wehe, wenn sich – wie im Falle Mursis – der Spieß umdreht. Dann wiederholt sich das Gleiche, in umgekehrter Richtung. In einer Nullsummenkultur lassen sich Machtkonflikte nicht auf halber Strecke beilegen. Sie müssen bis zum bitteren Ende ausgefochten werden.

Monströse Vernichtungsphantasien gegenüber den Muslimbrüdern

So gesehen muss das innerägyptische Post-Mursi-Narrativ fast zwangsläufig in die manichäisch-apokalyptische Schiene geraten. Alles ist schwarz oder weiß. Jede politische Äußerung wird einer der beiden Farben zugeordnet, weil Ägyptens Eliten die Instrumente fehlen, aus einer so tiefen Sackgasse der Polarisierung wieder herauszufinden. Entsprechend monströs geraten die Vernichtungsfantasien gegenüber den Muslimbrüdern, die immer mehr zur politischen Einheitsrhetorik der neuen Machthaber am Nil gerinnen. Im Westen mögen viele darüber entgeistert ihren Kopf schütteln – aber auch erkennen, auf was für einem hochkomplexen und vielgestaltigen zivilen Unterbau plurale Öffentlichkeit, Toleranz, friedliche Machtwechsel und letztlich eine funktionierende Demokratie beruhen.

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