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Meinung: Che Guevaras Erben

Der Linksruck in Lateinamerika ist auch Folge gescheiterter neoliberaler Politik

Als im April 2002 Teile des venezolanischen Militärs gegen Präsident Hugo Chávez putschten, zeigte sich die US-Regierung „nicht unzufrieden“ über den Machtwechsel in Caracas. Sie rechnete nicht damit, dass der Staatsstreich schon nach wenigen Stunden scheitern würde. Hunderttausende strömten aus den Slums von Caracas zum Präsidentenpalast und forderten die Rückkehr ihres Präsidenten. Seitdem wird Chávez in Lateinamerika von den Unterschichten und linken Gruppierungen regelrecht verehrt.

In den USA und Europa betrachtet man seine „Bolivarianische Revolution“ unterdessen mit Argwohn. Die Bush-Regierung beschwört ein zweites Kuba und nennt Chávez eine „Gefahr für die Stabilität der Region“. Die Rhetorik verhindert eine Analyse, warum linke Politik in Lateinamerika derzeit Konjunktur hat.

Chávez ist dreimal mit großer Mehrheit gewählt worden. Er ist so erfolgreich, weil er sich daran gemacht, den alten Widerspruch Lateinamerikas aufzulösen: den immensen Reichtum Bodenschätzen bei gleichzeitiger Armut der Menschen. Öl macht 80 Prozent der Exporte und die Hälfte der Staatseinnahmen Venezuelas aus. Die Regierung bringt die Petrodollars unters Volk. Allein im letzten Jahr hat sie 3,7 Milliarden Dollar fürs Soziale aufgewendet. Als „Petro-Populismus“ hat man Chávez’ Politik deshalb bezeichnet. Doch ihre Ergebnisse sind bemerkenswert: 1,5 Millionen Erwachsene haben in den vergangenen Jahren lesen gelernt.

Einschulungen von Kindern sind um mehr als eine Million gestiegen, weil es in den Schulen gratis zu Essen gibt. Dabei wird nicht mehr ausschließlich in staatlichen Schulen gelehrt, sondern auch in den so genannten „Misiones“. Diese Nachbarschaftsgruppen übernehmen auch politische Bildungsarbeit. Deswegen wird ihnen Indoktrination vorgeworfen. Ebenso kritisch stehen viele Venezolaner 17000 Medizinern aus Kuba gegenüber, die im Austausch für Öl gekommen sind. Doch Millionen Menschen konnten zum ersten Mal einen Arzt besuchen.

Die „Bolivarianische Revolution“ ist das radikalste Beispiel für den Linksdrift, der in den letzten Jahren in der Region stattgefunden hat. In Brasilien, Argentinien und Uruguay regieren sozialdemokratische Präsidenten, die dem neoliberalen Wirtschaftsmodell kritisch gegenüberstehen. Sie setzen auf regionale Integration anstelle der von den USA geforderten gesamtamerikanischen Freihandelszone. In Brasilien führt die Regierung zaghaft eine Landreform durch, in Argentinien spricht man über den Rückkauf privatisierter Unternehmen.

Es sieht danach aus, als ob sich der Linksruck in Lateinamerika fortsetzen wird. Im kommenden Jahr wählen die Mexikaner einen neuen Präsidenten. Die besten Chancen werden dem linkspopulistischen Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Manuel López Obrador, eingeräumt. In Bolivien könnte der Anführer der Koka-Bauern, Evo Morales, Präsident werden. Er führt die „Bewegung zum Sozialismus“ an, eine der Hauptinitiatoren der heftigen Proteste der vergangenen Wochen.

Warum driftet eine ganze Region nach links? Im Grunde ist es die Reaktion auf zwei Jahrzehnte neoliberaler Marktöffnung und Privatisierung. Die ungleiche Verteilung des Reichtums hat nicht wie versprochen ab-, sondern zugenommen. Privatisierungen haben nicht zu mehr Effizienz, sondern wie in Peru zum Ausbruch der Cholera geführt, weil sauberes Wasser zu teuer wurde. Hinzu kommt – wie in Bolivien – ein latenter Rassismus, der die indigene Bevölkerungsmehrheit zwei Jahrhunderte lang von der politischen Teilhabe ausgeschlossen hat. Dank der Demokratisierung, die nach dem Ende des Kalten Krieges möglich wurde, erkennen die marginalisierten Gruppen Lateinamerikas nun ihren Einfluss. Und sie nehmen sich das Recht, im Norden schlecht gelittene Populisten wie Hugo Chávez zu wählen.

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