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Meinung: Das Kopftuch ist keine Glaubensfrage

Hinter dem Streit um die muslimische Lehrerin steht das Großthema Migration – damit ist das Verfassungsgericht überfordert

Als das Bundesverfassungsgericht 1995 über das Kruzifix in Klassenzimmern entschied, wackelte die Erde. Das Urteil stürzte das Gericht in die schwerste Glaubwürdigkeitskrise seiner Geschichte. Politiker schimpften, die Presse empörte sich. Nichts ist heikler, wissen die Karlsruher Richter seitdem, als wenn eine Glaubensangelegenheit auf ihrem Schreibtisch liegt.

Acht Jahre später ist es wieder so weit. Der Stoff des Streits ist das Kopftuch, das „islamische“ Kopftuch, wie Kritiker sagen, obwohl an dem Tuch nichts Islamisches ist außer dem Kopf, den es verhüllt. Er gehört der aus Afghanistan stammenden Lehramtskandidatin Fereshta Ludin, und die hat sich als äußerst stur erwiesen. Seit fünf Jahren kämpft Ludin, in den Schuldienst übernommen zu werden. Man hat es ihr verweigert, weil der Staat seine Schulen nicht mit religiösen Symbolen ausstatten darf – Stichwort Neutralitätsgebot, siehe Kruzifix-Urteil.

Dieser Satz ist klar und klingt plausibel. Aber er zerbröselt, wenn man ihn auseinander nimmt. Denn ist Frau Ludin der Staat? Und ist das Kopftuch ein religiöses Symbol? Beschäftigt man sich ein wenig mit der Rechtsprechung zu Glaubensdingen, so wird schnell klar, dass die Protagonisten dabei nicht so wichtig sind. Was dort in Karlsruhe ausgefochten wird, sind regelmäßig Stellvertreterkämpfe. Im Streit um das Kruzifix ging es um den in säkularen Staaten schwindenden Restanspruch, Glauben mit hoheitlichen Mitteln und in öffentlichem Rahmen zelebrieren zu dürfen. Trennung von Staat und Kirche ja, aber bitte nicht so. Jetzt steht etwas anderes zu Debatte. Es geht darum, was wir unter Integration verstehen. Das wird bedeutend schwieriger.

Für viele Menschen, eingeschlossen islamische Frauen, ist das Kopftuch kein genuin religiöses Symbol. Es bezeugt den Glauben, stiftet Identität und schafft Gemeinsamkeit. Der Schal, den sich die Hunderttausende Kirchtentagsbesucher umgebunden hatten, hatte keine andere Funktion. Für viele andere Menschen jedoch ist das Kopftuch vor allem dies: Symbol für Fremde. Fremde, die bei uns leben, arbeiten, einkaufen und beten, die uns aber Fremde bleiben. Jetzt wollen sie nicht nur ihre Kinder zur Schule schicken, sie wollen auch noch die unseren unterrichten, und was sie dabei vor allem nicht wollen, ist ihre Fremdheit verstecken. Verständlich – und zugleich unerträglich?

Viele mögen hoffen, dass nun endlich das höchste Gericht den Weg weist und sagt, wo Toleranz Grenzen haben darf. Aber das erhoffte Signal ist in Wahrheit keines. Das Urteil muss zwangsläufig eine Enttäuschung werden, denn es wird nichts darüber sagen, wie viel Fremdheit eine Gesellschaft erträgt, ob sie sich abschotten muss oder wie sie integrieren kann. Es hilft uns nicht bei der Frage, ob man Zuwanderung mit Gesetzen steuern und Integration mit Gesetzen regeln kann. Das Urteil wird eine Bestätigung für nichts und niemanden sein. Es lässt uns mit den Fremden ziemlich allein.

Das Bundesverfassungsgericht tut so, als nehme es die Frage ernst, wie missionarisch so ein Kopftuch wirkt. Das ist natürlich Unsinn. Ein Kopftuch vor der Kreidetafel wirkt in etwa so missionarisch wie ein Jesuskreuz darüber. Gar nicht. Wer den Anblick gewohnt ist, nimmt es nicht wahr, wer es nicht ist, stellt Fragen. Das kann nicht unerwünscht sein. Frau Ludin ist gewiss gern bereit, sie mit ihren Schülern in der Pause und notfalls auch vor den Schultoren zu erörtern.

Das Gericht sollte in der Sache kühl seine Arbeit tun. Dann wird, dann muss es feststellen, dass jenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das Frau Ludin die Schule verschloss, falsch war. Die Richter übertrugen die Kruzifix-Problematik einfach auf den Fall Ludin. Das geht nicht. Die Wand im Klassenzimmer, an der das Kreuz hängt, ist ein Stück Staat. Frau Ludin ist es nicht, auch als Beamtin nicht. Ein Staat hat keine Grundrechte, schon gar keines auf Religion. Deshalb kann man ihm sein Kreuz abnehmen. Frau Ludin aber hat sie. Was dagegen stehen kann, sind die Rechte der Schüler und Eltern. Doch Frau Ludins Kopftuch anschauen zu müssen ist ein kleinerer Eingriff, als ihr es abzunehmen.

Kompromisse sind erlaubt. Ein Urteil hingegen, das es Lehrern versagt, wie sie sich kleiden oder modisch-religiös schmücken wollen, wäre fatal. Es kann in niemandes Interesse sein, wenn Schüler morgen verlangen, ein jüdischer Lehrer möge seine Kipa ablegen oder ein Christ sein Kreuz an der Halskette. Und dann sollte Ruhe einkehren an der Glaubensfront. In Bayern übrigens hängen ungezählte Kreuze in den Klassenzimmern. Niemand regt sich auf. Möge es den Kopftüchern bald ähnlich gehen.

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