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Anhänger des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi.

© Reuters

Von Afghanistan bis Ägypten: Demokratie lässt sich nicht einfach exportieren

Der Westen will sein Staatsmodell der Demokratie in die Welt tragen. Doch die vergangenen Jahre zeigen: Ohne Rücksicht auf Traditionen geht es nicht.

Von Anna Sauerbrey

In den Jahren 2003 und 2004 wurde die stillgelegte Dortmunder Kokerei „Kaiserstuhl“ von hunderten chinesischen Arbeitern abgebaut und nach China verschifft. Der Bergbaukonzern, der die Industrieanlage gekauft hatte, ließ die Kokerei in der Provinz Shandong Stahlteil für Stahlteil wieder aufbauen. 2010 besuchte ein Fotograf aus dem Ruhrgebiet die Anlage an ihrem neuen Standort und bestätigte: Sie verwandelt dort Kohle in Koks.

Würde man die deutsche Verfassung abbauen, nach China verschiffen und dort Paragraf für Paragraf wieder aufbauen – würde sie an ihrem neuen Standort die Parteidiktatur in eine parlamentarische Demokratie verwandeln? Institutionen, hat der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama einmal geschrieben, seien nur „bedingt reisefähig“. Und die jüngsten Beispiele scheinen ihm recht zu geben.

2001 beendeten die USA und ihre Verbündeten die Herrschaft der Taliban in Afghanistan. Mit der Hilfe der Westens bekam das Land eine demokratische Verfassung mit einem alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählten Präsidenten und einem Zwei-Kammern-Parlament, für das sogar eine Frauenquote gilt. Als aber Hamid Karsai 2009 wiedergewählt wurde, sprachen die OSZE-Wahlbeobachter von „wirklich großflächigem Wahlbetrug“. Die eben zu Ende gegangene Geberkonferenz für Afghanistan war begleitet von Klagen über Korruption. Davor schützt die beste Verfassung nicht.

Die Ägypter haben sich nach dem Sturz von Hosni Mubarak im Frühjahr 2011 eine Übergangsverfassung gegeben. Die Verfassung sieht ein oberstes Gericht, die Wahl eines Parlaments und einen direkt gewählten Präsidenten vor. Die Parlamentswahl haben zur Sorge des Westens die Islamisten gewonnen. Das Verfassungsgericht löste das Parlament wieder auf, unterstützt von der alten Garde, dem Militärrat. Der Präsident setzte per Dekret das Parlament wieder ein, wobei das Verfassungsgericht wiederum die Sitzung für ungültig erklärte. Der alte Machtkampf zwischen Religiösen und Militär setzt sich in den neuen Institutionen fort.

Rumänien ist seit dem Sturz des Ceausescu-Regimes zu einer semipräsidentiellen Demokratie geworden. Nun ließ Regierungschef Victor Ponta den Staatschef Traian Basescu vom Parlament absetzen. Das Verfassungsgericht wird mit einem Dekret geknebelt, eine Reihe weiterer Notverordnungen machen die Entmachtung perfekt. Bestätigen muss die Amtsenthebung eine Volksabstimmung, die aber wohl zugunsten Pontas ausgehen wird, denn der abgesetzte Staatschef ist gleichermaßen unbeliebt. Vor geschickter Ausnutzung der Gesetze zu einem fragwürdigen Coup schützen die Institutionen nicht.

Die Europäer und die USA reagieren auf die Defizite an demokratischer Kultur in formal demokratischen Ländern in der Regel mit echtem oder geheucheltem Unverständnis, in jedem Fall aber empört. Obwohl sich immer wieder gezeigt hat, dass eine Verfassung eben keine Kokerei ist (und selbst deutsche Industrieanlagen laufen in China nicht automatisch reibungsfrei) ist die Institutionengläubigkeit noch immer weit verbreitet.

Entwicklungshilfeexperten und die Politikwissenschaft vertreten inzwischen einen weicheren Ansatz. „Nation-building“, der Auf- und Umbau von Staaten, müsse zumindest an bestehende gesellschaftliche Strukturen, etwa an Stammeshierarchien, angepasst werden, um zu funktionieren. Das ist auch Praxis. In Afghanistan etwa wurde die neue Verfassung von einer „Loja Dschirga“, einer großen Ratsversammlung verabschiedet. Informelle Regeln, Traditionen und Tabus könnten nicht einfach abgerissen und durch ein neues Institutionengebäude ersetzt werden, sie müssen eingebaut werden und vor allem: bewohnt.

Das zu erreichen, ist unendlich schwierig. Eine allgemein gültige Formel zu finden, wäre das politische Äquivalent zur Entdeckung eines Universalmedikaments gegen Krebs.

Ein wichtiger Faktor aber kristallisiert sich heraus: es lohnt sich, doppelte Böden zu schaffen und ein ausgeklügeltes Kontrollsystem. Die Kontrolle kann auch von außen kommen, insofern ist die Empörung, die Victor Ponta aus Brüssel entgegenschlägt, und die Drohung, das Land besonderer Beobachtung zu unterwerfen, richtig. In anderen Fällen, zum Beispiel in Afghanistan, darf man unterstellen, dass die, die heute lautstark über die afghanischen Zustände klagen, keineswegs so verblendet waren zu glauben, die Demokratisierung des Landes könne über Nacht oder auch nur in einem Jahrzehnt zu schaffen sein. Anders als mit dem großen Versprechen, die Welt zu verbessern, wäre der Militäreinsatz aber wohl zumindest in Deutschland kaum zu verkaufen gewesen. So sagt das Klagegeschrei über das Demokratiedefizit der Welt wohl am Ende mehr über uns als über die anderen.

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