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Meinung: Denn sie wissen, was sie tun!

Jenseits von Eden“ – dieser Filmtitel fällt einem spontan zur Situation der Pflegeversicherung ein. Ja, wir sind hier jenseits von Eden und müssen ohne gravierende Änderungen im System mit einem langfristigen Defizit von 750 Milliarden Euro bei den Pflegefinanzen rechnen.

Jenseits von Eden“ – dieser Filmtitel fällt einem spontan zur Situation der Pflegeversicherung ein. Ja, wir sind hier jenseits von Eden und müssen ohne gravierende Änderungen im System mit einem langfristigen Defizit von 750 Milliarden Euro bei den Pflegefinanzen rechnen. Zum Vergleich: Unser gesamtes Bruttoinlandsprodukt beläuft sich auf rund 2,2 Billionen Euro. Bis zum Jahr 2055 türmt sich in der Pflegeversicherung also ein Fehlbetrag auf, der ein Drittel unserer gesamten Jahreswirtschaftsleistung ausmacht.

Die Gründe liegen auf der Hand: Der demographische Wandel. Die Alterung unserer Gesellschaft wird immer mehr pflegebedürftige Alte zur Folge haben. Und für die soll nach heutiger Lesart eine immer kleinere Zahl jener aufkommen, die sich heute noch in der künftigen Elternschaft, in den Geburtsstationen, in Kindergärten und Grundschulen tummeln. Jenseits von Eden – das sind wahrlich keine paradiesischen Aussichten für diese Nachkommen, die obendrein noch für Billionen-Staatsschulden einstehen sollen, für die ihre Eltern- und Großelterngeneration mit verantwortlich ist.

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„Zahlengebilde“ und „Horrorszenarien“ nannte ein Politiker auf Anfrage einer Nachrichtenagentur unsere Berechnung. Es ist schlichte Mathematik. Nur sprengen die Additionen, die hier zugrunde liegen, die üblichen an Vier- oder Fünf-Jahres-Wahlperioden ausgerichteten Denkstrukturen vieler Politiker.

Sicher ist aber: Ohne dass wir etwas tun, kommt der „Horror“ ganz bestimmt. Nicht für uns, das heißt: die geburtenstarken Jahrgänge der 50er und 60er Jahre, sondern für deren Kinder und Enkel.

Daran ändern auch die „Reformkonzepte“ nichts, an denen beide politischen Lager arbeiten, um der agonischen Pflegeversicherung noch ein paar Jahre siechen Überlebens zu verschaffen – im Gegenteil. Sowohl mit dem Bürgerversicherungskonzept, das Andrea Nahles und Karl Lauterbach entwickeln, als auch mit dem Konzept der bayerischen Sozialministerin Christa Stewens – wenn hier auch in geringerem Umfang – drohen die Pflegefinanzen noch stärker aus dem Ruder zu laufen. Langfristig droht ein Defizit von rund einer Billion Euro, also fast eine halbe Jahreswirtschaftsleistung aller Deutschen im Jahr 2004!

Warum ist das so? Vor allem auch, weil beide Lager die Leistungen der Gesetzlichen Pflegeversicherung auf die Gruppe der Demenzkranken ausweiten wollen. Deren Zahl wird nach aller Voraussicht überproportional steigen. Absolut betrachtet steigt nach seriösen Projektionen die Zahl der Demenzkranken, bezogen auf den Versichertenkreis der gesetzlichen Krankenversicherung, von ca. 0,97 Millionen im Jahr 2005 auf etwa 1,58 Millionen im Jahr 2030 und auf über 2,2 Millionen im Jahr 2050.

Der Grund für diesen Anstieg ist eine glücklicher Weise hoch entwickelte Medizin, die Menschen immer älter werden lässt. Wer heute 30 Jahre alt ist, hat beste Chancen, noch sein 95. Lebensjahr zu erleben, ein heute in Deutschland zur Welt gekommenes Baby kann mit großer Wahrscheinlichkeit im 22. Jahrhundert seinen 100. Geburtstag feiern.

Die Menschen werden älter, weil wir viele Leiden, die uns früher den Tod gebracht haben, jetzt erfolgreich behandeln können – zum Beispiel Krankheiten des Herz- und Kreislaufsystems.

Diese an sich erfreuliche Tatsache ist aber die Quelle, aus der sich ein immer größerer Zustrom an Demenzkranken speist. Den altersbedingten Verlust der geistigen Kräfte können wir derzeit praktisch nicht therapieren. Und Berechnungen, mit denen wir heute künftige Belastungen derer kalkulieren, die sich noch auf Kindesbeinen bewegen, können wir nicht auf die vage Hoffnung gründen, dass wir Demenz in zehn Jahren vielleicht ebenso erfolgreich therapieren können wie viele andere Alterskrankheiten.

Da diese Prognosen auch den verantwortlichen Politikern zugänglich sind, muss man leider feststellen: Die Politik weiß, was sie tut, und sie kennt auch die Folgen. Wer diese leugnet, beteiligt sich an einer unverantwortlichen Inszenierung. Wir dürfen aber nicht wissentlich untragbar hohe Kosten einer jungen Generation aufbürden, die noch nicht wissen kann, wie ihr geschieht – die weder wählen darf, noch sich sonst gegen solche Willkür wehren kann. Die Politik darf nicht länger mit Blick auf kurzfristige Wahlchancen Notreparaturen an einem irreparablen System vornehmen.

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Die unbarmherzige Wahrheit ist, dass der Versuch, diese enormen Milliarden-Lasten weiter über ein Umlageverfahren zu finanzieren, scheitern wird. Weil die dann aktive Generation diese Bürde wirtschaftlich nicht tragen kann.

Wir kämen zum Beispiel beim Bürgerversicherungsmodell von Nahles und Lauterbach zu einer Verdreifachung des Beitragssatzes von heute 1,7 Prozent auf 5,1 Prozent! Nahles und Lauterbach wollen die Beitragszahlerbasis verbreitern. Das mag sehr kurzfristig mehr Geld in die Pflegekasse spülen. Doch schon auf mittlere Sicht entlarvt sich das als Milchmädchenrechnung, weil auch die zusätzlich Bürgerversicherten rapide altern, wodurch sich die Probleme der klammen Pflegekasse noch verschärfen werden.

Christa Stewens’ Modell sieht vor, einen Teil der zusätzlichen Lasten über eine private Zusatzversicherung zu schultern. Das ist im Prinzip der bessere Weg. Doch der von ihr zusätzlich zur Umlage angepeilte monatliche private Vorsorgebeitrag von vier Euro pro Person, der sich bis 2030 auf 15,28 Euro erhöhen soll, ist viel zu niedrig angesetzt. Realistisch wäre ein Einstiegsbetrag von mindestens acht Euro, der bis zum Jahr 2030 auf fast 50 Euro steigen müsste. Den Preis für die stärkere Kapitaldeckung zahlen allein die heute Erwerbstätigen. Die heutigen Alten hingegen bleiben ungeschoren. Und das, obwohl kein Pflegefall von heute mit Fug und Recht behaupten könnte, dass er Jahrzehnte in die Pflegeversicherung eingezahlt hätte.

Aus all dem folgt: Beide aktuell diskutierten Modelle führen zu einer moralisch und auch wirtschaftlich nicht mehr vertretbaren Belastung der jungen Generation.

Nur, was ist in dieser Lage moralisch und vertretbar? „Wir können doch die Demenzkranken nicht sich selber überlassen!“, wird man entgegenhalten. Das stimmt! Aber die Gesetzliche Pflegeversicherung ist dafür kein tauglicher Rahmen. Sie muss zusammenbrechen, und das würde genau zu dem bereits angesprochenen Ergebnis führen. Wir werden zwei Millionen Demenzkranke nicht aus öffentlichen Systemen heraus pflegen können. Wer Vermögen hat, muss dieses im Alter notfalls in die eigene Pflege investieren. Die Gesellschaft hat lediglich für jene einzustehen, die sich selbst nicht helfen können.

Für alle übrigen Pflegebedürftigen, die bis dato unter den Schutz der Pflegeversicherung fallen, brauchen wir ein neues System der Kapitaldeckung. Der Einstieg in den Ausstieg aus der Umlagefinanzierung muss sofort beginnen und 2046 abgeschlossen sein, bevor der demographische Orkan im Jahr 2035 wirklich losgebrochen ist.

Für die Übergangszeit schaffen wir mit folgendem Szenario ein Maximum an Gerechtigkeit zwischen den Generationen: Nur die heute über 60-Jährigen bleiben in der GPV. Ihr Versicherungsbeitrag wird sich aber nicht länger prozentual am Einkommen orientieren, sondern wird durch eine monatliche Pflegepauschale von 50 Euro ersetzt. Wem das zu hoch scheint, dem sei gesagt, dass die Älteren auch mit diesem Betrag ihr eigenes Pflegerisiko bei weitem nicht komplett absichern.

Denn die heute unter 60-Jährigen müssen ihr Pflegerisiko zum einen durch eine Privatpolice absichern, die monatlich 50 bis 60 Euro Beitrag kostet. Und sie müssen zum anderen zusätzlich noch einen Solidaritätszuschlag von durchschnittlich 0,6 Prozent des Bruttoeinkommens entrichten, damit die GPV ihren laufenden Verpflichtungen für die im alten System verbleibende Generation 60 Plus erfüllen kann.

So – und nur so – können wir die notwendigen Lasten für zukünftige Generationen gleichmäßig und gerecht unter den Eltern und Großeltern aufteilen.

Vor diesem Hintergrund rufe ich auf zu einer großen Koalition der ökonomischen Vernunft. Ganz sicher bringt es nichts, sozialpolitische Fragen mit generationenübergreifenden Implikationen zum Thema angeblicher „Richtungsentscheidungen“ in Berlin machen zu wollen – so wie zurzeit ein Gegensatz zwischen der so genannten Bürgerversicherung und der Kopfpauschale im Gesundheitswesen aufgemacht wird. Wer eine solche Auseinandersetzung provoziert, handelt aus meiner Sicht letztlich unsozial, weil er um einer 48-monatigen politischen Überlebenszeit willen eine Debatte anheizt, die von den wirklichen Problemen ablenkt, mehr noch: deren tief greifende Konsequenzen auf das Niveau einer tagespolitischen Frage herunter bagatellisiert, die Neuwahlen beeinflussen soll.

Die Demographie lässt uns keine Wahl: In der Pflege und auch in der Gesundheit werden wir zu ganz neuen Strukturen kommen müssen, wenn wir auch in Zukunft angemessene Leistungen aus diesen Systemen in einem Klima des sozialen Friedens zwischen den Generationen haben wollen. Die heute aktive Generation wird in noch weit stärkerem Ausmaß als bisher für Pflege- und Gesundheitsrisiken im Alter vorsorgen müssen.

Verantwortungsbewusst agiert Politik dann, wenn sie der Öffentlichkeit diese Wahrheit ungeschminkt präsentiert und ihr Handeln darauf einstellt. Ich glaube sogar, dass viele Menschen das letztlich als gerecht und damit auch als sozial empfinden werden.

Der Begriff des Sozialen ist nach mehrheitlichem Verständnis hierzulande mit einem gewissen Maß an Gleichheit verknüpft. Wenn dem so ist, würde sich der Begriff Generationengerechtigkeit weitgehend mit dem Begriff der Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Handelns decken. Denn nachhaltig wirtschaften heißt, dass Leistungen und Gegenleistungen über Generationen hinweg ausgeglichen sind.

Wir werden in Zukunft wesentlich stärker als bisher das Gebot der Subsidiarität zu achten haben. Das heißt: Wer Vermögen hat, wird dies im Pflegefall auch zu verleben haben – darin liegt auch eine Verpflichtung zur Vorsorge in guten Zeiten. Dabei ist aus meiner Sicht jedoch eine klare Grenze zu ziehen, die das Bundesverfassungsgericht in dieser Woche schärfer definiert hat: Wer Familie ernst nimmt, dem ist auch klar, dass damit gegenseitige Verantwortung verbunden ist. So müssen Kinder im Bedarfsfall auch für ihre Eltern da sein. Nur wenn die Familie eine solche Unterstützung nicht leisten kann, muss die Gemeinschaft einspringen. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn die Pflege der Eltern die notwendige private Altersvorsorge der Kinder zu gefährden droht.

Die Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist und bleibt ein schwieriger Balanceakt.

Bernd Raffelhüschen

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