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Meinung: Der freundliche und unheilvolle Vater

Zu „Der liebende Sohn“ vom 31. März Der Artikel hat mir einen Schreck eingejagt.

Zu „Der liebende Sohn“ vom 31. März

Der Artikel hat mir einen Schreck eingejagt. War ich ein „liebender Sohn“ dieses Mannes? Nicht, dass ich wüsste.

Ich fühle mich falsch eingestuft.

Meinen Vater, Fritz Lenz, habe ich in mancherlei Weise respektiert, immer

wieder kritisiert und oft bedauert, was ich der Autorin Claudia Lenssen auch

erzählt habe. Was war das für einer? Ich denke: ein Bauernsohn aus Hinterpommern, Internatsschüler, Akademiker, ernsthafter Forscher mit Erfolgen, aber auch Weltanschauler, Ideologe, verunglückter Weltverbesserer, Vater dreier Söhne aus erster Ehe, Witwer und Ehemann meiner Mutter. Ich begleitete den freundlichen Vater über Jahrzehnte, im Krieg und im Frieden, genoss seine kleinen Vorträge und Geistesflüge, mit denen er die Bohnen- und Erbsensuppen würzte. Themen: Nietzsche, Schopenhauer, Sokrates, Plato, Darwin, Max Planck, Einstein.

Wir schreiben das Jahr 1944. Ich bin 13, aufgeweckt, selbstbewusst. Mein

Vater wird unausstehlich, denn ihm schwante, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Er hat einen Nervenzusammenbruch, lässt sich krankschreiben;

wir fliehen zu Verwandten der Mutter.

Heute fehlt mir nun die richtige Lust, mich als Anhängsel eines vieldeutigen Vaters traktieren zu lassen. Nein, ich war nie ein liebender Sohn eines Nazi-Vaters. Als 13-Jähriger hatte ich wenig Anlass, mich aufzulehnen gegen einen Vater, der mir Jungvolk und Napola ersparte und stattdessen griechische Philosophen nahebrachte. Was der Papa am Kaiser-Wilhelm-Institut angestellt hat, ist mir bis heute nicht ausreichend klar. So etwas war eben sein Beruf, über den abends nicht gesprochen wurde.

Gewissermaßen ist es das Verdienst von Claudia Lenssen, dass sie den Professor Lenz aus dem Halbdunkel gezogen hat. Sein zweifelhaftes Standardwerk „Menschliche Erblehre und Rassenhygiene“ von 1936 habe ich erst gründlicher nach ihren Weckrufen gelesen. Bis dahin war ich zufrieden mit dem Kapitel, das „die Juden“ noch intelligenter als „die Germanen“ feierte. Nicht wahrgenommen habe ich das Kapitel, welches die Schädlichkeit von „Mischehen“ behauptete, was später zu einer unmenschlichen Gesetzgebung beitrug. An anderer Stelle erscheinen Juden als „Parasiten“. Mein Vater hat das alles nicht mehr wirklich aufgearbeitet. Er sagte: „Es wird die Spur von meinen Erdentagen in kurzer Zeit im Sand verwehen...“ Noch ist es nicht so weit. Stattdessen macht mir mein vielseitiger und unheilvoller Vater noch Ärger.

Freilich habe ich, jenseits dessen, auch selber noch etwas mitzuteilen. Meine Arbeiten über die Verfolgung der Homosexuellen im „Dritten Reich“, eine Ausstellung über den Algerienkrieg und Engagements für Menschenrechte sind späte Folgen von frühen Traumata.

Reimar Lenz, Berlin-Wilmersdorf

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