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Meinung: Der Irrweg der direkten Demokratie

Berlin stimmt am Sonntag auch über die Volksgesetzgebung ab

Wenn die Berliner am 17. September zu den Urnen schreiten, dann geht es nicht nur um die Zusammensetzung des Landesparlaments und der Bezirksversammlungen. Es geht auch um eine Erweiterung der eigenen demokratischen Mitwirkungsrechte. Der einmütig ergangene Beschluss des Abgeordnetenhauses vom Mai dieses Jahres, die Nutzung der so genannten Volksgesetzgebung zu erleichtern, muss nach Artikel 100 der Landesverfassung durch die Bürger selbst bestätigt werden.

Wird er es? Angesichts der grundsätzlichen Pro-Haltung der Bevölkerung zur direkten Demokratie (in einer Tagesspiegel-Umfrage votierten 58,4 Prozent der Teilnehmer für die neuen Regelungen) ist es wenig wahrscheinlich, dass die Berliner der Verfassungsänderung am Wahltag ihre Zustimmung versagen.

Berlin zählt, was die Bürgerfreundlichkeit der Direktdemokratie angeht, auf der Landesebene neben dem Saarland zu den demokratischen Schlusslichtern. Während die plebiszitären Elemente auf der kommunalen Ebene (auch in Berlin) durchaus lebhaft praktiziert werden, fristen sie in der Landespolitik weiterhin ein Schattensein. Nach einem positiven Beschluss der Bürger am 17. September könnte sich das künftig ändern. Dann werden zum Beispiel Initiativen zu finanzwirksamen Gesetzen ausdrücklich erlaubt sein, was ansonsten bislang nur in Sachsen der Fall ist.

Wenn die Anwendbarkeit der direktdemokratischen Verfahren erleichtert wird, könnten demnächst freilich häufiger Situationen entstehen, bei denen das Volk in Widerstreit zum parlamentarischen Gesetzgeber tritt. Welche dramatischen Folgen sich daraus ergeben, kann man zurzeit in Hamburg besichtigen. Die in Berlin geplanten Änderungen sind dort in vergleichbarer Form schon 2001 beschlossen worden. Die dadurch ermöglichte verstärkte Nutzung der Plebiszite hat dazu geführt, dass die regierende CDU bei zwei Volksabstimmungen schmerzliche Niederlagen einstecken musste. Die Regierungspartei wusste sich darauf keinen anderen Rat, als die ihr unangenehmen Beschlüsse einfach wieder zu kassieren. Das ist nach der herrschenden Verfassungsrechtsprechung zwar zulässig, stellt aber im Grunde eine Verhöhnung des Wählers dar (den als Souverän zu titulieren sich die Politiker ansonsten ja gerne belieben). Würde das Beispiel Schule machen, könnte man direktdemokratische Verfahren gleich ganz abschaffen.

Eine andere Frage ist, ob der verfassungspolitische Konflikt, den die CDU durch die Missachtung der Volksentscheide provoziert hat, nicht auch etwas mit der generellen Ausgestaltung der Direktdemokratie in unserem Lande zu tun haben könnte. Diese hat sich bisher stets auf die vermeintlich fortschrittlichste Variante der Volksgesetzgebung kapriziert, wofür es in Westeuropa – von der Schweiz einmal abgesehen – kein vergleichbares Beispiel gibt. Das Problem der Volksgesetzgebung liegt darin, dass die Bürger hier in letzter Konsequenz an die Stelle (und nicht nur an die Seite) des parlamentarischen Gesetzgebers treten. Die Trias von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid ist deshalb, was die Systemverträglichkeit angeht, prekärer als andere Formen der direkten Demokratie wie etwa das Referendum, dem der parlamentarische Beschluss vorausgeht.

Der Hamburger Fall könnte so gesehen auch als Hinweis genommen werden, dass sich der vermeintliche Königsweg der direkten Demokratie in Wahrheit als Irrweg entpuppt. Die Frage lautet, ob die Verfassungsgeber gut beraten sind, sich bei der Ausgestaltung der direkten Demokratie ausschließlich auf die Volksgesetzgebung zu versteifen. Sie müsste dringend beantwortet werden, wenn plebiszitäre Elemente auch ins Grundgesetz eingeführt werden sollen. Eine umstandslose Übertragung des Modells, wie es heute in den Ländern besteht, ist wenig ratsam.

Der Autor ist Professor für politische Wissenschaft an der Universität Bonn.

Frank Decker

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