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Meinung: Der neue Kiez der Bourgeoisie

Von Roger Boyes, The Times

Lange dachte ich der Kiez wäre eine von Berlins Stadtlegenden, wie der sagenhafte Sprachwitz (in Wahrheit verbale Bulldozerei) oder die Berliner Lust am Leben (studieren Sie mal die joie de vivre auf der U2 von der Eberswalder Straße!). Doch nach einem Kurzbesuch in London war mir wieder klar: Berlin hat einen Sinn für Nachbarschaften, den andere Städte schon verloren haben. In London ziehen die Menschen in bewachte Anlagen und verstecken ihren Reichtum hinter hohen Mauern. Bestenfalls tauscht man auf dem Weg zum Wohnblock ein paar Floskeln aus oder nickt sich zu. Viele haben Angst, nach acht Uhr die Tür zu öffnen.

Berlin ist ohne Frage gemütlicher. Neu ist hier, dass der Kiez kein Unterschichtphänomen mehr ist – im Wedding quatscht man nicht auf der Straße – sondern ein Ort, an dem die Mittelschicht zu sich findet. Das hat mit Sprache zu tun (wie will man sich auch mit jemandem unterhalten, der kein Deutsch spricht?), mit der Altersstruktur (alte Menschen, normalerweise der Kitt des Kiezes, gehen nur ungern abends raus), und zum Teil auch mit der hohen Geschwindigkeit des Lebens.

Den Kiez hält heute das neue Berliner Bürgertum am Leben. In meiner Straße im Grunewald ist das eine Mischung aus Porsches, Witwen und Hundekot (was im alten Berliner Kiez die Straßengang war, ist heute die Gassi-Mafia). Ihre Labradore und West Highland Terrier fest im Griff, führen diese Grunewalder Gassigänger eine Informationsbörse über unseren kleinen reichen Kiez.

Daraus ergibt sich das Bild einer Straße, die sich langsam an Veränderung anpasst. Eine arabische Familie ist in das große Halb-Fachwerkhaus in der Nähe des S-Bahnhofes gezogen. Im Vorgarten steht nun eine Hollywoodschaukel, Kinder spielen laut mit ihren Kindermädchen, aus dem Fenster im vierten Stock ist leise arabische Musik zu hören. Am Anfang waren die Nachbarn schockiert, mehr Multikulti war noch nie im Grunewald, inzwischen haben sie sich daran gewöhnt, dass sich das Straßenbild verändert. Im Supermarkt übernahm eine Managerin aus dem Osten die Kontrolle: Die längere Öffnungszeit ist Vorbote eines drohenden Ost-Westkonflikts.

Doch die größte Erschütterung traf den Kiez in Form einer Frau, die vor der Tür eines Nachbarn erschien und das Haus kaufen wollte. Die Frau war eindeutig Neukölln: Jogginganzug, blonde Dauerwelle. Sie sagte, sie habe das Leben einer reichen Frau gerettet; die reiche Frau, ein modernes Märchen, wolle ihrer Retterin zum Dank ein Haus im Grunewald kaufen. Der Nachbar glaubt die Geschichte und wollte verkaufen. Am Tag der Vertragsunterzeichnung erschien Frau X nicht. Der Nachbar rief sie an. „JVA Tegel“, kam die Antwort. Mein Nachbar erklärte die Situation. „Oh Gott, nicht schon wieder Frau X“, sagte der Gefängniswärter. „Das ist das dritte Haus, das sie in diesem Jahr im Grunewald gekauft hat.“ Die arme Insassin, wochenends rausgelassen, kauft gern prächtige Häuser – besitzt aber leider mehr Fantasie als Geld. Der Nachbar war wütend, der Kiez beruhigt. Neuköllner, da war man sich einig, sollten in Neukölln bleiben. Die Ehre des Kiezes stand auf dem Spiel.

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