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Der Osten: Das andere Europa

1989/90 befreite sich auch Osteuropa: Seitdem entwickelt sich diese Region vor – und zurück.

Die Deutschen haben sich in diesem Jahr ausgiebig daran erinnert, dass sie vor 20 Jahren wieder ein Staat geworden sind – dabei ist ihnen ziemlich aus den Augen geraten, dass das kein Alleingang war. Alle mittel- und osteuropäischen Nachbarn erlebten damals eine Neugeburt. Neue Regierungen und freie Wahlen führten die Länder, die 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang lagen, zurück zu Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Kurz: Das historische Wendejahr 1989/90 ist keineswegs nur ein deutsches, sondern ein europäisches Ereignis.

Seither haben die jungen Demokratien in Ostmitteleuropa den Anschluss an den Geleitzug der Länder des alten, westeuropäischen Europas geschafft. Sie haben die Marktwirtschaft eingeführt, sind Mitglieder in Nato und EU geworden. Aber der Blick auf diese Länder verlangt nach der Vergewisserung von Gelingen und Verfehlen. Denn auf der anderen, östlichen Seite Europas hat es auch Ereignisse und Entwicklungen gegeben, mit denen die Westeuropäer nicht gerechnet haben und die sie manchmal auch verstörten.

Für den politischen Geschmack der alten EU-Demokratien hat es da nicht nur ein paar Nach-Wenden zu viel gegeben. Vor allem sind dabei fast alle Parteien untergepflügt worden, auf die man seinerzeit mit Bewunderung geblickt hat. Längst sind sie Geschichte – die ruhmreiche Solidarnosc in Polen etwa oder das Demokratische Forum in Ungarn, die Partei des ersten, hoch anerkannten Ministerpräsidenten József Antall.

Vor allem aber sind es nationalistische und populistische Infektionen des öffentlichen Lebens, die beunruhigen. Da war die kulturkämpferische Herausforderung der Zivilgesellschaft, für die in Polen die nationalkonservativen Kaczynski-Zwillinge standen – vielleicht nur als ein Zwischenspiel. Ob das auch für den Erfolg von Jobbik gilt, einer offen antisemitischen Partei, die im Frühjahr ins ungarische Parlament einzog, muss sich erst noch herausstellen.

Der Bazillus rechter Ideologisierung ist auch in anderen Ländern virulent. Besonders an den Roma, die seit alters in Osteuropa leben – in Ungarn, der östlichen Slowakei, in der Ukraine und Rumänien –, entzünden sich immer wieder Aggressionen und Attacken.

20 Jahre nach der großen Wende stellt sich die Frage, ob die Staaten und ihre Gesellschaften, die durchweg auch mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, solcher Anfechtungen Herr werden können. Es gibt Entwicklungen, die Mut machen, in Polen etwa. Es gibt andere: Ungarn sei, so befürchtet der österreichisch-ungarische Publizist Paul Lendvai, vom „Schrittmacher“ der östlichen Rückkehr nach Europa zum „Krisenherd“ geworden.

Über „Europas schwieriger Osten? Nationalismen in neuem Gewand“ diskutieren am Sonntag, dem 5. Dezember, um 11 Uhr Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher sowie der polnische Publizist Adam Krzeminski, sein ungarischer Kollege György Dalos und die Kroatin Slovanka Drakulic im Deutschen Theater in Berlin. Die Diskussion leitet Hermann Rudolph, Herausgeber des Tagesspiegels.

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