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Meinung: Der Preis der Freiheit

Roger Boyes, The Times

Ein freundlicher Leser hat mir letzte Woche eine vergilbte, alte Ausgabe des Tagesspiegels geschickt. Es war mein Geburtstag, und er schenkte mir die Originalausgabe dieses Tages. Der Trick ist, sich vorzustellen, wie dein Vater im Krankenhaus vor dem Kreißsaal sitzt und versucht, seine Nerven zu beruhigen, in dem er jeden einzelnen Satz in der Zeitung liest, während du selber gerade versuchst, aus dem Mutterleib rauszukommen. Okay, ich bin nicht in Berlin geboren – vielleicht werde ich ja hier sterben – doch wäre ich, dann hätte mein Vater über den Iran gelesen (Aufmacher: „Mossadek unter kommunistischem Druck?“), über Spülwasser in der Krummen Lanke, über die vergessenen Kriegsgräber in der Hasenheide und die Angebote aus dem KaDeWe zum Sommerschlussverkauf. Ich sehe ihn vor mir, wie er den Tagesspiegel aufschlägt und ruft: „Verdammter Iran!“ oder „Verdammte Flüchtlinge“ oder „Verdammter Harry Truman!“ Die Hebamme wäre gekommen, hätte die Geburt seines Sohnes verkündet – und er hätte es gar nicht wahrgenommen, betroffen von der Traurigkeit der Welt.

Vielleicht verzögerte sich die Geburt ja auch, und er fand die Zeit, einen bemerkenswerten Artikel auf der Titelseite von Rainer Hildebrandt zu lesen. Der Tagesspiegel stellte ihn als „Sachkenner der Verhältnisse in der Sowjetzone“ vor, bis heute ist er den meisten Berlinern als der Gründer des Checkpoint-Charlie-Museums in Erinnerung. Der Artikel war bemerkenswert, und er war leidenschaftlich. Im Wesentlichen handelte er davon, dass zwischen 500 und 700 Flüchtlinge am Tag Ostberlin in Richtung Westen verließen. Über 60 Prozent wurden von der Flüchtlingsstelle abgewiesen, ihnen wurde gesagt, sie müssten in die Sowjetzone zurückkehren. Ein neues Gesetz hatte sie aber gezwungen, ihr gesamtes Vermögen zurückzulassen, bevor sie in den Westen gingen, und der wollte sie nicht. Für Hildebrandt war das Unrecht, er war außer sich.

Unmittelbar nachdem ich den 54 Jahre alten Artikel von Hildebrandt gelesen hatte, bekam ich ein Fax von seiner Frau Alexandra, die das Museum fortführt. Darin schrieb sie, dass seit dem 13. August 1961 1135 Menschen an der Berliner Mauer gestorben seien. Diese Zahl stand im Gegensatz zu den neuesten Erkenntnissen des Forschungsprojektes „Todesopfer an der Berliner Mauer“, in dem von 125 Opfern die Rede ist und von 81 Fällen, die noch untersucht werden.

Dieses Herumhantieren mit Zahlen ärgert mich. Warum wissen wir so viele Jahre nach dem Mauerfall genug, um DDR-Grenztruppen anzuklagen, doch zu wenig über die Menschen, die starben? Natürlich muss man genau sein. DDR-Stellen haben die Zahl der Opfer manipuliert, um Erfolgsmeldungen zu produzieren. Doch ich mache mir Sorgen darüber, dass junge Menschen jetzt auf die Zahl 125 schauen und denken, so viele Menschen sterben auch in einer Woche Krieg im Libanon.

Die Lebenserwartung in Deutschland war nie höher, und die Medizin verlängert Leben (auch meins! Danke, Dr. Kowalski). Doch in den Medien gibt es eine Todesinflation: Je mehr Leute sterben, desto mehr wird darüber berichtet. Zwanzig Tote nach einem Attentat in Bagdad schaffen es nicht mal mehr in TV-Nachrichten. Jetzt liefern sich Bagdad und Beirut ein Kopf-an- Kopf-Rennen, vielleicht um 125 Leichen.

Das ist nicht gut. Worum es doch bei der Mauer geht, sind nicht die Zahlen, sondern der Grad der Verzweiflung, der so viele Menschen dazu trieb, ihr Leben zu riskieren. Es geht um den Preis der Freiheit. Vielleicht hört sich das jetzt so wie die krächzende Stimme eines Kalten Kriegers an, doch es ist schlicht die Wahrheit. Ich bin jetzt alt genug, um manchmal einfach zu Hause zu bleiben, statt mich auf Clubexpeditionen zu begeben. So auch am Mittwochabend. Da lief auf der ARD „Letzte Ausfahrt Westberlin”, eine Dokumentation über den Passagierdampfer „Friedrich Wolf“, der 1962 vom Nordufer der Hauptstadt der DDR zum rettenden Südufer entführt wurde. Das war kein Doku-Kitsch, sondern ein Schlüssel, um Deutschland zu verstehen. Wie viel ist Freiheit wert? Für mich ist das eine zentrale Frage dieser Tage, und ich glaube, sie wird in deutschen Schulen viel zu selten diskutiert. Vielleicht sollten Schüler in das Checkpoint-Charlie-Museum in der Friedrichstraße gehen und sich anschauen, wie DDR-Bürger auf den Moskau-Berlin-Express sprangen, wie sie sich ihren Weg durch Abwasserkanäle oder über Stromleitungen bahnten. Das sind nicht bloß Abenteuergeschichten. Nein, sie zeigen, wie man das Leben leben kann: mutig, grenzenlos.

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