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Meinung: Der Tag danach: Die Grenzen der Vergeltung

Wann je war der Atlantik so schmal? Wann je hätte man so viel Verständnis gehabt für Vergeltungsschläge gegen die Terroristen?

Wann je war der Atlantik so schmal? Wann je hätte man so viel Verständnis gehabt für Vergeltungsschläge gegen die Terroristen? Und wann je waren die USA so hilflos?

Natürlich können die US-Streitkräfte sämtliche Zelte in Afghanistan bombardieren, wenn bin Laden der Drahtzieher sein sollte. Sie können ein paar Fabriken im Irak zerstören, um Saddams Solidaritätsbekundungen für die Terroristen zu bestrafen. All das können sie, und doch sind sie ohnmächtig. Denn nichts, was die USA im Nahen Osten an Vergeltung üben könnten, wäre auch nur annähernd so brutal-symbolisch wie die Ermordung Zehntausender in Manhattan.

Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Fotostrecke I: Der Anschlag auf das WTC und das Pentagon Fotostrecke II: Reaktionen auf die Attentate Chronologie: Die Anschlagserie gegen die USA Reaktionen: Weltweites Entsetzen Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 gilt als der Hauptverdächtige Man kann es auch anders ausdrücken: Wenn die Vergeltung im richtigen Verhältnis zum Angriff auf Amerika stehen sollte, dann stünde sie nicht mehr im rechten Verhältnis zur Zivilität der USA. In Sachen Barbarei sind die Barbaren kaum zu übertreffen. Wenn der Westen vor allem auf diesem Weg nach Gerechtigkeit sucht, droht er global in die gleiche Situation zu kommen wie Israel: Selbstmordbereiter Terror wird mit nachrichtendienstlich präziser und militärisch überlegener Vergeltung beantwortet - und erntet doch nur neuen Terror. Der Nahe Osten wäre überall. Der Verteidigungsfall der Nato würde zum Vergeltungsfall.

Wenn aber die schnellen Gegenschläge nicht weit führen, was dann? Was hilft gegen Terror, der keine Grenzen kennt, keine staatlichen, keine humanen, keine logistischen? Neben der Verbesserung von Sicherheitsmaßnahmen im Inneren sind zwei Antworten möglich: Prävention durch Repression gegenüber allen, die auf diesem Globus das Wort für irgendeinen Terrorismus erheben, ja für alle, die auch nur dazu schweigen. Oder: Prävention durch Konfliktbeseitigung, durch mehr Verständnis für die arabischen Länder und verstärktes Engagement im Nahen Osten. Kurzum: mehr Härte oder mehr Zuwendung.

Die Antwort liegt auf der Hand: Der Westen braucht mehr Sicherheitsvorkehrungen (und damit weniger Freiheit); er wird mit größerer Härte gegen die Terroristenund ihre unheimlichen Freunde vorgehen; und er wird dort mehr helfen müssen, wo Fanatismus wächst. Alles zusammen bedeutet, dass sich die Agendagründlich verändert hat. Der Westen wird weit mehr Geld und Aufmerksamkeit aufwenden müssen, um sich wieder ähnlich sicher fühlen zu können wie vor dem 11. September.

Auch in Deutschland müssen sich die Prioritäten verschieben. Um im Kleinen zu beginnen: Am Dienstagvormittag noch fanden wir die Frage interessant, ob Rudolf Scharping zurücktreten muss; jetzt kommt alles darauf an, wie er sich im Bundessicherheitsrat bewährt und ob er die Situation für eine den neuen Gefahrenlagen angemessene Reform der Bundeswehr nutzen kann. Vorgestern noch waren wir besorgt, ob Hans Eichel wegen der US-Konjunktur seinen Sparkurs wird durchhalten können; heute können wir froh sein, wenn er die Neuverschuldung nicht allzu sehr erhöht. Vorgestern noch stritten Grüne und Schily über die Zuwanderung; bald wird das Thema unter dem Eindruck des neuen Terrorismus noch einmal von vorn aufgerollt. Ab morgen wird sich die deutsche Gesellschaft andere Gedanken machen - über Geheimdienste, über die Bundeswehrund darüber, wie teuer uns unsere Freiheit ist.

Und irgendwann werden wir auch wieder zur Tagesordnung übergehen. Hoffentlich, denn die Tagesordnung, das ist - im Gegensatz zur fanatischen Daueraufgeregtheit anderswo - unsere Zivilisation. Aber diese Tagesordnung wird anders aussehen als bisher.

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