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Meinung: Der Tag danach: Übermenschliche Ruhe

Verwundet, gepeinigt, geschunden - aber nicht geschlagen. So ist Amerika nicht.

Verwundet, gepeinigt, geschunden - aber nicht geschlagen. So ist Amerika nicht. So würde Amerika aber gerne sein. Um dieses Mindestmaß an Fassung ringt die Nation, jetzt, da noch immer Tausende unter den Trümmern des World Trade Centers und des Pentagon begraben liegen. Um inmitten der Rauchwolken und Trümmer Amerikas Seelenlage zu verstehen, sollte man bei der "Cole" anfangen. Die "Cole" war das US-Kriegsschiff, das am 12. Oktober 2000 im Hafen von Aden zerfetzt wurde. 17 US-Soldaten starben.

Das Schicksal der "Cole" ist in Europa registriert worden. Im Gedächtnis haften blieb es kaum. Das ist, was Europa von den USA unterscheidet. Amerika hat sich leider längst daran gewöhnen müssen, Opfer von Terroranschlägen zu werden. Es gehört zum Alltag Amerikas, zum Ziel von Fanatikern gemacht zu werden, wenn auch meist jenseits des eigenen Staatsgebiets. Und die Opfer bleiben im Bewusstsein.

Unverletzlich, den Wirren der Welt entrückt, geschützt durch zwei Ozeane: So sieht sich Amerika schon lange nicht mehr. Die Illusion der Unverwundbarkeit ist nicht erst seit Dienstag weg. Natürlich hat der Terror eine neue Qualität erreicht, natürlich reicht er an die Kriegserklärung heran, die Japan mit dem Angriff auf Pearl Harbor hinwarf. Doch schon seit Tim McVeighs 168-fachem Mord beim Anschlag auf die Bundesverwaltung in Oklahoma und seit den 15 Toten von Columbine, der Schule in Colorado, zerwühlt sich Amerikas Gesellschaft: Wie kann so viel Gewalt in unsere Mitte getragen werden?

Niemand kennt die Täter, doch alles deutet auf Osama bin Laden hin. Dann wären es also Fanatiker von außen gewesen, die Manhattan in Schutt und Asche legten. Tausende gingen am Dienstagmittag staubbedeckt und stumm über die Brücken, einfach weg. Keine Panik. Am Mittwoch wehten Flaggen, keine Banner mit Hasstiraden. In seiner Trauer hat Amerika Größe bewiesen. Dazu war das Land auch deshalb fähig, weil das, was da geschehen ist, eben nicht bis vorgestern als undenkbar galt. Die USA sind als Macht exponierter und haben seit langem ein ganz anderes Gespür für das Risiko der eigenen Existenz, als wir Europäer dies erkennen: Märtyrer der Freiheit.

In Ritualen der Trauer und des Abschieds, in den immer gleichen Worten, die US-Präsidenten bei solchen Gelegenheiten sagen, finden die USA ein wenig Ruhe und Frieden. In der Seele Amerikas verbindet etwas die Toten der "Cole", von Oklahoma und von Manhattan. Sie sind, daran hält Amerika mit trotzigem Stolz fest, Opfer des richtigen Projekts.

Dieses Projekt wird nun verteidigt werden. Washington wird zurückschlagen. Manche sagen: Das dreht die Spirale der Gewalt nur weiter, sät neuen Terror. Dieses Missverständnis folgt der Logik der Täter. Der offene Jubel einiger Palästinenser ist die Spitze eines Eisberges, der klammheimliche Freude heißt. Jene, die in den USA einen arroganten Weltpolizisten sehen, teilen sich in solche, die den texanischen Haudegen verachten, unzivilisiert und barbarisch, wie er angeblich ist. Andere rügen die USA als dekadentes Weltreich, das aus Kalkül, nicht Tumbheit, die selbstherrliche Siegerpose liebt.

In den USA herrscht ein breiter Konsens, der anders lautet: Nur durch Wehrhaftigkeit gewinnt die Freiheit das Rückgrat, das auch Opfer verschmerzen lässt. Die schärfsten Rufe, nun schonungslos jedem Terror und jedem, der dem Terror ein Heim bietet, den Garaus zu machen, kommen nicht aus den USA. Sie kommen aus Israel, von Ex-Premier Barak, von der politischen Linken und von Dozenten israelischer Universitäten, und sie landen per Fernsehen in Amerikas Wohnstuben. Konservative wie die Ex-Minister James Baker und George Shultz schließen sich an. Doch was wirklich überrascht, ist nicht die Schärfe des Rufes nach Rache, sondern die fast übermenschliche Ruhe.

28 Jahre lang stand in Berlin die Mauer. Als sie fiel, sahen wir die Welt, wie sie sein könnte: frei, einig, demokratisch. 28 Jahre lang stand auch das World Trade Center in Manhattan. Seit es am Dienstag fiel, sieht die Welt sich selbst ein wenig mehr so, wie die USA sie schon immer sahen: uneins, zerrissen, gefährlich, voller Hass. Doch es war stets Amerika, das unbeirrt daran fest hielt, dass man die Welt besser machen kann. Durch Kraft, aber auch durch Opferbereitschaft. Zwei Dinge sollte niemand in diesen Tagen unterschätzen: Amerikas Bereitschaft zur Härte, und seine Fähigkeit zur Heilung.

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