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Meinung: Der Westen freut sich

Die Stasi-Datei Rosenholz ist gar keine Agentenkartei

Von Matthias Schlegel

Viele Jahre lang schwebte der Begriff „Rosenholz-Dateien“ wie ein Damoklesschwert über dem westlichen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft. Jene 1990 auf verschlungenen Wegen in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes CIA gelangten Fotokopien von Karteien der Hauptverwaltung Aufklärung, also der Auslandsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit, schienen das Geheimnis zu bergen, wie tief die Stasi die Bundesrepublik unterwandert hatte. Manche frohlockten mit kaum verhohlener Schadenfreude, nun seien bei der Stasi-Aufarbeitung „endlich die Wessis dran“.

Jetzt, da der Inhalt der Dateien von den Wissenschaftlern der Stasi-Unterlagen-Behörde nahezu komplett aufbereitet ist, ergibt sich ein anderes Bild: Die meisten der in den Dateien vorkommenden 280 000 Personen sind gar keine Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), also keine Spitzel, sondern Menschen aus deren Umfeld oder gar Zielpersonen der HVA, also Betroffene. Überraschung Nummer eins: Rosenholz ist keine glasklare Agentenkartei, sondern das verquaste Fleißprodukt einer registraturgeilen Geheimdienstverwaltung. Weiterhin ergibt sich aus den Rosenholz-Dateien: Nur ein geringer Teil der in den Unterlagen auftauchenden Inoffiziellen Mitarbeiter waren Westdeutsche. 1989 waren noch rund 1500 West-IM aktiv. Deren Identität aber ist heute größtenteils bekannt. Denn gegen viele von ihnen wurde seit 1990 bereits ermittelt. Dabei bedienten sich die Strafverfolgungsbehörden der Rosenholz-Dateien, in die sie beim CIA einblicken durften.

Überraschung Nummer zwei: Spektakuläre Enthüllungen über Westdeutsche wird es durch Rosenholz kaum noch geben. Dagegen tauchten etwa 10 000 DDR-Bürger in den Dateien auf, die 1989 noch als IM in Diensten der HVA standen. Sie sind bis heute unentdeckt geblieben. Bisherige Akteneinsichten konnten sich nicht auf HVA-Dokumente erstrecken, weil es in der Stasi-Unterlagen-Behörde keine gab. Alle HVA-Akten waren von den Tschekisten selbst vernichtet worden, denn zur Wendezeit war der Auslandsaufklärung als der einzigen MfS-Abteilung zugestanden worden, sich selbst aufzulösen. So wurden die westwärts gerichteten IM-Aktivitäten der DDR-Bürger bislang öffentlich kaum wahrgenommen: die Aushorchungen von Verwandten im Westen, die Wirtschaftsspionage, die Berichte von Dienstreisen ins kapitalistische Ausland, die Kurierdienste.

Überraschung Nummer drei: Rosenholz ist kein West-, sondern vorrangig ein Ostproblem. Juristische Konsequenzen ihrer Zuträgerei für die Auslandsaufklärung haben die früheren Inlands-IM indes nicht zu befürchten. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 Spionage von DDR-Bürgern gegen die Bundesrepublik straffrei gestellt. Die meisten Delikte wären ohnehin verjährt. Dennoch könnten die von etlichen Landesregierungen und Parlamenten angestrebten neuerlichen Überprüfungen auf Stasi-Mitarbeit Folgen haben: Wer bei seinem Amtsantritt oder der Annahme eines Mandats eine Erklärung unterschrieben hat, dass er nicht für das MfS tätig war, hat – falls ihm nun das Gegenteil nachgewiesen wird – gelogen und damit das in ihn gesetzte Vertrauen verwirkt. Bis 2006 ermöglicht der Gesetzgeber noch solcherlei Stasi-Überprüfungen.

Auch wenn der Blick zurück schon im Dunst der Verklärung verschwimmt und Vergangenheitsaufarbeitung unpopulär geworden zu sein scheint – die politische Hygiene und der Grundsatz der Gleichbehandlung gebieten neue Überprüfungen.

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