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Deutsche und Türken: Privilegierte Provokation

Nirgendwo in der EU leben so viele Türken wie in Deutschland. Doch die Frage der Integration ist nicht gelöst. Darum legt die Bundesregierungen Wert darauf, dass die Annäherung der Türkei an westliche Standards klar dokumentiert ist. Nur: Ganz so offen, wie der Aufnahmeprozess sein sollte, ist er nicht.

War doch alles nicht so gemeint, war doch alles nur ein Missverständnis. So klingt es öfter im Verhältnis Türkei – Deutschland. Der türkische Premier formuliert ja schon mal sehr angriffslustig, das weiß inzwischen jeder. Aber auch die deutsche Kanzlerin? Die eher nicht, deshalb war ihr klares Nein zu türkischen Schulen hierzulande wohl auch in Ankara eine Überraschung. Dass aber im Gegenzug Recep Tayyip Erdogan öffentlich die Frage stellt, woher dieser „Hass gegen die Türkei“ komme – das ist dann doch eine zwischen Freunden erschreckende Formulierung.

Oder war das mit der Freundschaft ein Missverständnis? Freunde: ein arg strapaziertes Wort zwischen Staaten. Zunächst einmal ist Freundschaft sowieso immer ein Angebot, bei dem der andere frei ist, es anzunehmen oder abzulehnen. Zum Zweiten haben Staaten keine Freunde, sondern Interessen. Allerdings sind freundschaftliche Beziehungen zwischen Staaten möglich, die dann gefördert werden, wenn die, die ihre Geschicke lenken, einander mögen. Helmut Kohl war in der Verknüpfung dessen ein großer Meister. Er hat das Verhältnis zu den Türken auch mehr als jeder andere Kanzler geprägt, mit engen familiären Banden dazu. Gerhard Schröder hat es, sagen wir, freundschaftlich-kumpelig gehalten. Da ist Angela Merkel naturgemäß anders.

Nun, nach einem halben Jahrzehnt Merkel, wird es Zeit, dass Türkei und Deutschland einander richtig verstehen; und sei es, dass sie einander neu verstehen lernen. Denn dieses Verhältnis ist unter allen erdenklichen Umständen wirklich von besonderer Bedeutung: weltpolitisch, europapolitisch, binnenpolitisch. Weltpolitisch, weil die USA die Türkei gerne in der Europäischen Union sehen wollen und entsprechend Druck machen. Sie soll noch enger an den sogenannten Westen herangeführt werden; immerhin ist die Türkei Nachbar des Irak, Nachbar der arabischen Staaten, ist sicherheitspolitisches Glacis.

Womit Punkt zwei, die Europäische Union, tangiert wäre. Den USA leuchtet auch nicht recht ein, wie sehr sich die Union über christliche Werte definiert, sie sehen das mit der Religionsfreiheit außerdem anders und freier. Nicht nur aus Washingtoner Sicht muss sich darum die EU, Deutschland voran, entscheiden, was sie sein soll, „Christenverein“ oder offene Wertegemeinschaft. Wozu in der Betrachtung auch die Aufnahmebedingungen in die Union gehören – was zum binnenpolitischen Aspekt führt.

Nirgendwo in der EU leben so viele Türken wie in Deutschland. Die Frage der Integration ist, unter Freunden gesagt, bis heute nicht gelöst, und es ist nicht die erste Generation, von der hier die Rede ist. Darum legen die Bundesregierungen nach Kohl, wenngleich mit wechselndem Pendelschlag der Sympathie, Wert darauf, dass die Annäherung der Türkei an westliche Standards klar dokumentiert ist, von rechtlich bis wirtschaftlich. Nur: Ganz so offen, wie der Aufnahmeprozess laut EU sein soll, ist er deutscherseits nicht. Die CDU unter Merkels Leitung strebt nämlich weniger an, eine „privilegierte Partnerschaft“, die FDP unter Außenminister Westerwelle mehr, die Aufnahme – und die Türkei fühlt sich für dumm verkauft, je länger die Unentschiedenheit dauert.

Da muss Klarheit her, in der Koalition im Bund, mit der EU, den USA. Und Wahrheit! Es geht doch im Kern um die Frage: ja oder nein. Dass die Kanzlerin Nein sagen kann, wenn sie will, hat sie doch gerade erst gezeigt. Oder war das auch nur ein Missverständnis?

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