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Foto: Kai-Uwe Heinrich

© Kai-Uwe Heinrich, TSP

Gastbeitrag: Die Berliner Früheinschulung ist falsch

In Berlin werden Kinder schon mit fünfeinhalb Jahren regulär eingeschult. Damit geht das Land einen Weg, der kleinen Kindern schadet - der Einschulungsstichtag sollte wieder in den September verschoben werden

Daria ist ein Novemberkind und zum Zeitpunkt ihrer Einschulung gerade einmal fünfeinhalb Jahre alt. Obwohl sie große Lust auf die Schule hat, kämpft sie als Jüngste der Klasse nicht nur mit Anlaufschwierigkeiten. Ihre Lehrerin scheint überfordert und ausreichende Hilfe bekommt sie von der Schule nicht. Heute ist Daria in der siebten Klasse und erzählt immer noch, wie hilflos sie sich damals fühlte.

So wie Daria ergeht es vielen Schülerinnen und Schülern in Berlin. Die Hauptstadt hat als Folge der desaströsen Pisa-Ergebnisse in den vergangenen Jahren viele Reformen durchgeführt. Eine dieser Reformen war das Vorziehen des Einschulungsalters. Mit der Änderung des Stichtags im Schulgesetz auf den 31. Dezember eines Jahres wurden auch Kinder mit fünfeinhalb Jahren schulpflichtig. Manche Bundesländer, die das Einschulungsalter ebenfalls herabgesetzt hatten, sind längst davon abgerückt. Berlin ist das einzige Bundesland, das seit 2004 an der Früheinschulung festhält und diesen Sonderweg beschreitet.

Bisher gibt es keine Studien, die belegen, dass die frühere Einschulung den Lernerfolg von Kindern fördert, geschweige denn steigert. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Der Berliner Senat hat es in den vergangenen acht Jahren nicht für nötig erachtet, die frühere Einschulung der Kinder in irgendeiner Weise zu untersuchen. Dabei ist die Evaluierung leicht gemacht: Man prüfe den Geburtsmonat der Kinder, die ein Jahr länger in der Schulanfangsphase verweilen, schaue sich die Vera-3-Ergebnisse an und untersuche die Empfehlungen für die weiterführenden Schulen.

Andererseits stellt sich die Frage, ob nach acht Jahren Praxis eine Untersuchung überhaupt noch nötig ist. Das wiederholt schlechte Abschneiden der Berliner Grundschüler bei Leistungsuntersuchungen, wie zuletzt beim IQB-Ländervergleich, macht deutlich, dass die frühe Einschulung keinen positiven Einfluss auf die Leistungsfähigkeit der Schüler hat. Die sogenannte „flexible Einschulungsregelung“ und die damit zusammenhängende, in den letzten Jahren stark ansteigende Zahl der Anträge auf Rückstellungen zeigt, dass die jetzige Regelung von den Eltern offenbar nicht gewollt ist. Der Anteil der Schüler, die zurückgestellt wurden, also nicht mit fünfeinhalb Jahren eingeschult wurden, betrug im letzten Schuljahr 10,6 Prozent. Tendenz steigend.

Gleichzeitig ist die Zahl der Verweiler in der Schulanfangsphase von 340 im Schuljahr 2006/07, auf aktuell 3828 gestiegen und hat sich damit mehr als verzehnfacht. Auch die Zahl der Schulen, die sich vom „Jül“ – dem Jahrgangsübergreifenden Lernen – verabschieden, steigt von Jahr zu Jahr. Diese Entwicklungen sind, auch wenn sie nicht unbedingt in einem kausalen Zusammenhang mit der Früheinschulung stehen, ein Alarmzeichen! Abgesehen vom bürokratischen Aufwand, den Rückstellungen verursachen und den Kosten, die durch eine längere Verweildauer in der Schulanfangsphase entstehen, ist der Einfluss auf die früh eingeschulten Kinder – um nicht von Schaden zu reden – immens. Im schlechtesten Fall können diese negativen Erfahrungen in den frühen Jahren die gesamte Bildungsbiografie der Kinder nachhaltig prägen!

Darum ist es an der Zeit, eine Reform, die sich für die Kinder nicht als förderlich erwiesen hat, zurückzunehmen. Der Einschulungsstichtag sollte, wie in den meisten Bundesländern üblich, auf den 30. September des Jahres gelegt werden. Außerdem muss die Betreuung in den Kitas gewährleistet sein, da im Ergebnis rund 6000 Kinder zusätzlich ein Jahr länger in der Kita betreut werden müssten. Dies erfordert eine angemessene Ausstattung mit Personal und vor allem eine ausreichende Anzahl von Kitaplätzen. Ein positiver Nebeneffekt wäre, dass es durch die Änderung des Einschulungsalters zu einem leichten Personalüberhang in der Grundschule kommen kann. Dieser Personalüberhang sollte für die pädagogische Stärkung von „Jül“ und der Schulanfangsphase der Grundschulen, insbesondere in sozial benachteiligten Gebieten, eingesetzt werden.

Der Autor ist bildungspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin.

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