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Meinung: Die Bibel der Biologie

Alle Chromosomen des Menschen sind entziffert – und jetzt?

Alexander S. Kekulé Das Buch der Schöpfung des Menschen hat 24 Bände. Der erste Band, der am vergangenen Mittwoch veröffentlicht wurde, beginnt mit den Lettern „TAACCCTAACCCTAACCC…“. Literarisch dürfte das keine Konkurrenz zum ersten Buch Mose werden, dem weltweiten Bestseller zum Thema Schöpfung. In jeder anderen Hinsicht jedoch hat die Gensequenz des Menschen alle Chancen, die Bibel auf Platz zwei der wichtigsten Bücher zu verdrängen – die Botschaften der Heiligen Schrift stehen vor der schwersten Prüfung ihrer Geschichte.

Die genetische Revolution beginnt, wie viele umwälzende Veränderungen, mit einer Reihe unscheinbarer Ereignisse. Als Herbert Boyer und Stanley Cohen 1973 erstmals das Erbmaterial (von Bakterien) veränderten, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz. Auch die Meldung von vergangener Woche, das Genom des Menschen sei nun vollständig entschlüsselt, ging beinahe im Medienrauschen unter – hatte es die gleiche Nachricht nicht schon einmal gegeben?

Tatsächlich verkündete der ehrgeizige Biotech-Unternehmer Craig Venter bereits im Jahre 2000, er habe den Erbcode des Menschen geknackt. Die damalige Konkurrenz, das größtenteils staatlich finanzierte Human Genome Project (HGS), reagierte prompt mit der Meldung, man sei auch schon fast fertig. Der US-Präsident lud die Forscher flugs zu einem triumphalen Empfang ins Weiße Haus. In Wirklichkeit hatte HGS jedoch gerade mal 90 Prozent der 3,12 Milliarden Genbausteine entschlüsselt. Venter hatte ein paar Buchstaben mehr, dafür aber mit lauter Lücken und Fehlern. Im Jahre 2003 wurde dann noch einmal ostentativ gefeiert – das Erbgut war nun zu rund 99 Prozent entschlüsselt.

Eigentlich hätte die Party jedoch erst vergangene Woche steigen dürfen. Bis dahin hatten die Forscher zwar alle Genbausteine entziffert, kannten jedoch ihre Anordnung in den 24 menschlichen Chromosomen nicht – eine 24-bändige Enzyklopädie ist ziemlich nutzlos, wenn die Seiten zerrissen sind und ungeordnet auf einem Haufen liegen. In jahrelanger Puzzlearbeit setzten Molekularbiologen des HGP in aller Welt ein Chromosom nach dem anderen zusammen. Mit dem zuletzt entschlüsselten Chromosom 1 ist die Bibel der Biologie nun vollständig und geordnet.

Mit der Erfindung der Gentechnik und der Entschlüsselung des Genoms hat der Mensch eine Zeitenwende eingeläutet. In der neuen Ära seiner Geschichte wird Homo sapiens lernen, genetisch verursachte Krankheiten vor der Geburt zu erkennen. Viele Menschheitsleiden wie Krebs, Alzheimer oder Diabetes werden heilbar sein. Durch Manipulation der Keimbahn können Erbfehler eliminiert und den Nachkommen gewünschte Eigenschaften angezüchtet werden.

Im Moment jedoch steht die Erforschung der Funktion der Gene und ihres Wechselspiels untereinander erst am Anfang. Die genetische Revolution beginnt mit unscheinbaren Ereignissen –  etwa der gerade gemeldeten Entdeckung eines Gens, das ein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs anzeigt. Das könnte eine wichtige Entscheidungshilfe für ältere Männer werden, die nicht wissen, ob sie ihre vergrößerte Prostata operieren lassen sollen. Die Kenntnis der Veranlagung zu Krebs kann aber auch ein Leben in grundloser Angst bedeuten.

Die Antwort auf die Frage, wie der Mensch mit seinem Wissen umgehen soll, ist nicht im genetischen Code verschlüsselt: Die Bewertung der neuen biologischen Techniken muss die christlich-abendländische Ethik leisten. Die hat nun einiges aufzuholen, damit das Buch der Bücher auch in der Ära der Gentechnik noch gefragt bleibt.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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