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Meinung: Die Erotik der Bibliotheken

Von Roger Boyes, The Times

Der Hackesche Markt ist zu einer Freak Show geworden. In der Oranienburger Straße stehen Huren mit unbeweglichen Puppengesichtern auf Körpern, die aus einem Terminator-Film stammen könnten, alles nur Schultern und Beine, die Samuraikämpfer des postfeministischen Zeitalters. Auf ihren weißen Plastikabsätzen blicken sie von oben auf den mit einer lächerlichen Uniform kostümierten Portier des Hasir-Restaurants herab. Er sieht aus wie ein Deserteur einer ganz anderen Armee, der osmanischen vielleicht, und man möchte ihn gerne schütteln und sagen: Wach auf! Der erste Weltkrieg ist vorüber! Hasir ist nur ein Döner-Restaurant mit High-TechToiletten! Geh zurück zu deinem Regiment! Der Erste Weltkrieg ist vorbei!

Aber natürlich macht man das nicht. Man drängelt sich an den Zuhältern vorbei und den Gruppen aus dem Sauerland, die versuchen, ins Chamäleon reinzukommen. Man geht vorbei an jenem blassen, verlassenen Mädchen auf dem Starbucks-Sofa, man weicht den Straßenbahnen aus und bewegt sich Richtung British Council, der ein teures Gebäude aus Glas gemietet hat an der lautesten Ecke der Stadt.

Wenn der Sicherheitsbeamte einverstanden ist, kann man nach oben gehen und in einer Bibliothek sitzen mit komfortablen Sesseln und keinem quiekenden Handy in Hörweite. Das war einer der wenigen inspirierenden Kapitel britischer Kulturdiplomatie. Es gibt keine weiteren Motive für eine Bibliothek: Sie ist nicht Teil einer Regierungsstrategie, um die Elite eines fremden Landes zu verführen. Sie befördert kein nationales Interesse. Eine Bibliothek ist keine Botschaft oder Kanzleramt, es ist nur ein Raum mit Büchern, der die Stille respektiert. Und am Hackeschen Markt ist Schweigen mehr als wert als Gold, Platin nämlich. All dies ist meine Art, zu sagen, dass der British Council dabei ist, die Bibliothek zu schließen, um Geld zu sparen.

Der Grund ist banal: Deutsche, die sich für Großbritannien interessieren, können ihre Informationen online bekommen. Wenn sie wirklich Bücher lesen wollen – und der moderne Kulturdiplomat findet das eher absurd, ähnlich kurios wie mit dem Stift zu schreiben – nun, dann sollen sie diese Dinge eben kaufen, lass sie zu Dussmann gehen oder Marga Schoeller, wenn sie das schon tun müssen. Chacun à son gôut.

Diese Entscheidung verkörpert alles, was an Britannien heute armselig und mittelmäßig ist; es ist nicht nur ein Rückzug vom Buch, immer noch einem der mächtigsten Übertragungsmedien von Kultur, sondern auch von der Idee, dass Menschen sich austauschen können und sollen mithilfe eines Treffens im Reich der Vorstellung.

Trotz seines bedauerlichen Finanzmanagements versteht Berlin dies auf eine Art und Weise, die dem British Council nicht zugänglich ist. Der Wiederaufbau der Staatsbibliothek ist ein wundervolles Projekt und das Design des Lesesaals von H. G. Merck – als eines rechteckigen Lichtkörpers, der über einer Raumschale schwebt – kommt einem Geniestreich nahe. Aber sogar auf bescheidenerem Niveau zeigen die Berliner, dass sie Bibliotheken zu schätzen wussten. Die DDR hat 1986 in Hohenschönhausen eine Bücherei gebaut, als der Bezirk so neu war, dass er noch nach Farbe und Beton roch. Später wurde die Anna-Seghers-Bibliothek zum Prerower Platz verlegt und wurde zum pumpenden Herz eines kämpfenden Bezirks: Fünf Millionen haben sie in den letzten 20 Jahren benutzt.

Die Engländer haben das einmal verstanden. Der Lesesaal des British Museum mit seinen ledernen Türgriffen, seinem lichtdurchfluteten Raum strömt noch immer Sinnlichkeit aus. Mit Büchern möblierte Räume haben etwas Erotisches. Einer unser triebhaftesten Poeten, Philip Larkin, war ein Universitätsbibliothekar, der seine Affären zwischen den Bücherregalen führte. Ein Lifestylemagazin für Männer erzählt mir, das die fünfthäufigste Fantasie mittelalter Briten darin besteht, einer strengen Bibliothekarin die Hornbrille abzunehmen, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihr Haar befreit, und sie dann zu küssen.

Büchereien sind nicht nur staubige Zufluchtsorte vor der Realität – antiquierte Räume, die schnell von der Digitalisierung überflüssig gemacht werden –, sondern magische und dynamische Orte. Sogar die Bibliothek am Hackeschen Markt war für Inspiration gut: Hunderte von Berlinern haben sich dort in so genannten Lesegruppen getroffen, Buchliebhaber, die nicht nur über Bücher, sondern über Gefühle reden wollten. Nimm ein Buch aus dem Regal und beobachte, wie andere lesen. Was geht in ihren Köpfen vor? Was für eine Art von Energie wird vom Buch auf den Leser übertragen?

Es ist eine Energie, die nicht in Flaschen gefüllt oder gemessen und in einer Buchhalterkladde vermerkt werden kann. Und deshalb schließen die Bürokraten des British Council meine Oase. Wie traurig. In Zukunft werde ich versuchen, den Hackeschen Markt zu meiden.

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