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Mit dem Papamobil durch die Masse: Briten jubeln dem Papst zu.

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Kontrapunkt: Die kluge Masse

Kontrapunkt - die neue Meinungskolumne auf Tagesspiegel.de. Papst, Sarrazin, Guttenberg: Malte Lehming erläutert, warum der Stammtisch öfter recht hat, als seinen Kritikern lieb ist.  

Ginge es gerecht zu auf der Welt, müsste Papst Benedikt XVI. im Knast sitzen, wäre Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ gefloppt, und Karl-Theodor zu Guttenberg würde allenfalls noch Schatzkanzler der CSU sein. Weil die medialen Meinungsproduzenten in Deutschland unter „gerecht“ auch „richtig“ verstehen, müssen sie derzeit das Gefühl haben, in einer falschen Welt zu leben.

Und das kam so: Der gute Deutsche misstraut der Masse. Wahr spricht nur der Einzelne, selbst Ungläubige stellen sich gern in die Tradition von Noah, Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer. Weil die Deutschen einst massenhaft einem Diktator hinterherliefen, verachten deren Nachkommen heute zwar auch die meisten Diktatoren, aber am allermeisten die Masse. Das zeigt sich an negativ besetzten Begriffen wie „Stammtischparolen“, „Massenwahn“, „Populismus“. Die Sponti-Bewegung brachte ihren eigenen und den verbreiteten elitären Dünkel mit dem Satz auf den Punkt: „Fresst Scheiße, Leute, Millionen Fliegen können sich nicht irren.“

Nun erschien vor sechs Jahren ein Buch, das eine Grundgewissheit der Spontis und des linksliberalen deutschen Feuilletons auf den Kopf stellt. Es heißt „Die Weisheit der Vielen – Warum Gruppen klüger sind als Einzelne“ (im Original: „The Wisdom of Crowds. Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations”). Der Autor, James Surowiecki, weist nach, dass große Gruppen oft rationaler, abwägender und klüger urteilen als Experten. Günther Jauch hat diese These einmal in einer TV-Sendung überprüft. Das Duell Zuschauer gegen Experten ging damals unentschieden aus.

Dennoch kann man sagen, dass sich das Volk - oder eben: der viel geschmähte Stammtisch - auch in politischen Debatten ein gutes Gespür für Dimensionen und Proportionen bewahrt hat. Während Leitartikler die Keule rausholen, gesellschaftliche Ächtungen vollziehen und Rücktritte einklagen, lässt der kollektive gesunde Menschenverstand eben jenen walten. Deshalb fallen manchmal öffentliche und veröffentlichte Meinung radikal auseinander.

Beispiel Papst. Für Atheisten darf es den ohnehin nicht geben. Fundamental-Atheisten wie Richard Dawkins, Christopher Hitchens oder Peter Tatchell wollten ihn während seiner jüngsten Reise nach Großbritannien gar verhaften lassen. Sie organisierten Protestzüge, auf denen es, wie der „Spectator“ vermerkte, gehässiger zuging als bei Staatsbesuchen mörderischer Tyrannen. Wegen der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sowie der Haltung des Vatikans zu Abtreibung, Homosexualität und Kondombenutzung ist Papst Benedikt selbst in bürgerlichen Kreisen verfemt. Das Volk indes, wie immer klüger, urteilt anders. Die Briten waren vom Papst ganz angetan. Und da ihn persönlich wohl keine Schuld an den Missbrauchsfällen trifft, wird ihm sein rigider Moralismus verziehen. Als Oberhaupt einer Glaubensgemeinschaft genießt der Papst intuitiv einen Exotenbonus.

Beispiel Sarrazin. Die erste Welle der Kritiker zieh ihn des Rassismus, der Eugenik, der Deutschtümelei und Islamophobie. Dann meldete sich massenhaft die Bevölkerung zu Wort, der solche Plattitüden zu platt waren. Prompt wurde daraus, in der zweiten Welle, eine Gefahr für die Demokratie konstruiert. Wieder wurde die Masse nicht als Korrektiv begriffen, sondern als Alarmsignal missverstanden. Ist Thilo Sarrazin der deutsche Geert Wilders? Schon hörte man dumpfe Kahlköpfe die erste Strophe des Deutschlandliedes grölen. Bei einer überfüllten Podiumsdiskussion über sein Buch in Berlin waren dann aber verbiesterte, verbitterte Ausländerfeinde kaum zu sehen. „Statt dessen jüngere Menschen, Akademiker, viele Pärchen darunter, Besucher, die sicher nicht zum erstenmal zu einer Buchlesung erschienen waren“, wie „Spiegel-Online“ schrieb.

Und weil auch die angebliche Volkspartei SPD nicht mehr davon absehen kann, dass das Buch mit 650.000 Exemplaren auf Platz eins der Bestsellerliste steht – eine Abstimmung an der Ladentheke gewissermaßen –, versucht Sigmar Gabriel jetzt den Spagat, zwar einerseits Sarrazin aus der Partei schmeißen, ihn aber andererseits imitieren zu wollen. „Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt, der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen“, tönt Gabriel. Wer wollte es dem Volk verübeln, lieber beim Original bleiben zu wollen, als zur Kopie zu wechseln?

Beispiel Guttenberg. Wie war das noch mit Oberst Georg Klein, der Kundus-Affäre, den angeblich unehrenhaften Entlassungen langgedienter Mitarbeiter, den Pose-Fotos im Hubschrauber, der Abschaffung der Wehrpflicht? Zeter und Mordio wurde gebrüllt, ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, „Skandal“ skandiert. Und das Resultat? Seit vielen Wochen führt Guttenberg die Hitliste der beliebtesten deutschen Politiker mit großem Abstand an. Die Häme in der veröffentlichten Meinung über ihn perlt spurlos an ihm ab. Denn das Volk spürt: Hier soll einer geschlachtet werden, dessen Erfolg andere bloß neidisch macht.

Was lehrt uns das? Es geht doch gerecht zu auf der Welt, jedenfalls im Sinne der kollektiven Klugheit. Wer die nicht anerkennt, soll ruhig weiter an der Welt leiden.

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